Unser Role Model des Monats November ist ein rundum großartiger Mensch. Virgie Tovar ist eine beeindruckende Frau, die es in einer von Schlankheitswahn und Fettphobie geprägten Gesellschaft geschafft hat, die Abwertungen anderer und den eigenen Selbsthass zu überwinden und allen, wirklich allen ins Gesicht zu sagen, dass sie fett, fantastisch und das Gesamtpaket ist. Sie hat eine Anthologie mit dem Titel Hot and Heavy herausgebracht, in der kämpferische fette Frauen zu den Themen Leben, Liebe und Mode Stellung beziehen. Sie ist zertifizierte Sexualerzieherin, hat in Berkeley zum Thema weibliche Sexualität unterrichtet, ihre eigene Radioshow moderiert und vor 3 Jahren damit begonnen „Virgie Tovar’s Fat Girl Guide to Life“ auf Youtube zu posten (das zu sehen, lohnt sich wirklich für jede und jeden).
Mittlerweile gilt sie den USA als eine der wichtigsten Expertinnen für Körperwahrnehmung, Fettphobie und Diskriminierung. Daneben schreibt sie ein sehr cooles Blog, auf dem sie über Fett, Mode, Sex und das Leben philosophiert. Das alles immer gerade heraus, mit viel Lebensfreude und gespickt mit unfassbar klugen Gedanken. Und zwar nicht etwa, weil Virgie nicht wüsste, wie es da draußen zugeht, und sich einredet, alle hätten auf sie gewartet. In Bezug auf Fat Shaming und Fat Discrimination weiß das wohl kaum jemand besser als sie. Aber mit ihrer Kampagne #loosehatenotweight hat sie ein für alle Mal klar gestellt, dass sie sich von Hatern weder aufhalten noch den Spass verderben lässt.
Wer wie wir von Virgie nicht genug bekommen kann, findet sie auf zahlreichen sozialen Plattformen.
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Twitter
Tumblr
Instagram
Youtube
Überall verbreitet Virgie ihre Botschaft von Liebe, Toleranz Fettakzeptanz und Miss Piggy als ihrem großen Vorbild.
Für uns ist Virgie ein Vorbild. Deswegen wollten wir auch unbedingt ein Interview mit ihr machen zu dem sie sich dankenswerter Weise bereit erklärt hat. Hier kommt es.
Interview
Virgie, wie schafft man es, sich im eigenen Körper wohl zu fühlen, wenn die Welt ihr möglichstes tut, einen unglücklich und unzufrieden mit dem eigenen Aussehen zu halten, damit man rausgeht und Sachen konsumiert?
Unser natürlicher Zustand ist Glücklichsein. Wir haben grundsätzlich die Anlage, uns in unserem Körper wohl zu fühlen. Ich bin überzeugt, dass unsere Körper dazu geschaffen und programmiert wurden, Freude zu empfinden. Das ist unser Geburtsrecht. Uns wird beigebracht, ein angespanntes, nervöses Verhältnis zu unserem Körper zu haben, und wir vergessen darüber, wie es vor dieser Erziehung war. Aber dieses Wissen ist in uns und wir müssen darum kämpfen, es wiederzuerlangen. Dinge, die mir dabei geholfen haben, meinen Körper wertzuschätzen anstatt zu hassen, sind folgende (in absteigender Reihenfolge):
- Unterstützende und politisch interessierte Freund*innen
- Miss Piggy (jeder braucht eine höhere Macht, an die er sich wenden kann, wenn es schwierig wird)
- Unglaubliche Outfits
- Dekadente Nachspeisen
- Whirlpools und Schwimmbäder
- Feministische Bücher und Blogs
Ich habe mir ein Leben erschaffen, das mit den Dingen erfüllt ist, die mir am wichtigsten sind: Vergnügen, Freude und Freiheit.
Gibt es etwas, das junge Mädchen tun können, wenn sie anfangen, sich mit ihrem Körper unwohl zu fühlen?
JA!
- Lest Bücher, die kritisch gegenüber der Norm/dem Status Quo sind.
- Pflegt Freundschaften mit den Leuten, mit denen ihr euch gut und sicher fühlt, und meidet Menschen, die euch vermitteln, ihr müsstet eure Körper verändern.
- Denkt immer, wirklich immer daran, dass alles und alle, die euch erzählen, dass eure Körper irgendwie falsch sind, TOTALE LÜGNER sind.
Was hältst du von Begriffen wie „skinny bitches“ (dünne Zicken) wie zum Beispiel in dem Song „All about that bass“?
Weißt du, ich habe den Begriff erst kürzlich auf einer Lesung beim San Francisco Litquake gebraucht, aber normalerweise versuche ich das zu vermeiden. Ich glaube solche Begriffe zementieren die lange Tradition von Wettkampf und Bissigkeit zwischen Frauen. Ich denke, dass es wichtig ist, sich den Schlankheitswahn und den mit Schlankheit verbundenen Privilegien bewusst zu sein, aber ich sehe nicht wo ein Begriff wie „skinny bitch“ das leistet.
Wenn die Leute mitkriegen, dass sie sich gemein und beleidigend fetten Menschen gegenüber verhalten, scheinen viele von ihnen Zuflucht in der „Gesundheitsproblematik“ zu suchen. So als wäre fett gleichbedeutend mit selbstmörderisch oder zumindest mit alarmierend. Wie wird man mit solchen Leuten fertig, ohne gleich medizinische Studien parat zu haben um sie zu widerlegen?
Ja, das Wort „Gesundheit“ wird in der Tat viel gebraucht. Tatsächlich taucht es nicht auf, wenn ich einen Vortrag halte, aber als ich mir die Tage ein Taxi genommen habe, hatten der Fahrer und ich diese Diskussion von vorn bis hinten. Er fand Fettphobie gerechtfertigt, weil er mal fett und unglücklich war und jetzt ist er dünn und nicht mehr unglücklich – weil er ja dünn ist. Diese Denkweise ist ziemlich verbreitet, macht aber im Kern kaum Sinn. Es gibt zahlreiche Gründe, warum er unglücklich gewesen ist als er fett war (nicht zuletzt den, dass fette Menschen dauernd gesagt bekommen, sie sollen sich schuldig und beschämt fühlen, und Diskriminierung erfahren). Es ist sehr wahrscheinlich, dass er sich jetzt glücklicher fühlt, weil uns die Gesellschaft eintrichtert, Abnehmen sei mit das Beste, das man erreiche könnte. Und letztlich ist seine persönliche Erfahrung schon mal gar kein Grund, Fettphobie für gerechtfertigt zu halten. Ich glaube du hast Recht damit, dass das „Gesundheitsargument“ ein Ablenkungsmanöver von Leuten ist, die sich nicht wirklich kritisch mit Fettphobie auseinandersetzen wollen. Es erstaunt mich immer wieder, wie viele Schwierigkeiten die Leute damit haben, „gesund“ zu definieren. Das ist ein Problem, weil auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene mit dem Begriff so oft argumentiert wird. Ich entgegne dem meistens:
- Es gibt keine Körpergröße/-form, die es verdient diskriminiert und stigmatisiert zu werden. Wenn wir Fettphobie unterstützen befürworten wir damit Diskriminierung und Bigotterie. Es gibt keine Gewichtsbegrenzung für Menschenrechte.
- Lebenslange Erfahrung von Stigmatisierung und Diskriminierung führt zu gesundheitlichen Belastungen wie einer kürzeren Lebenserwartung und Herz-Kreislauf- Problemen. Aber das wird dann natürlich darauf geschoben, dass man fett ist.
- Gesundheit muss ganzheitlich verstanden werden und die physische Gesundheit ist an die psychische Gesundheit gebunden. Wie kann man nur Abnehmen um jeden Preis propagieren, ohne auf die psychischen und emotionalen Auswirkungen zu achten, die Selbsthass nach sich zieht?!
Wie ätzend ist es für dich und deine großartige #loosehatenotweight Kampagne, ständig Leute an die dunkle Seite der Macht zu verlieren – also Menschen die mal fett und cool damit waren und sich jetzt – nach einer Diät – dazu berufen fühlen, der Welt mitzuteilen wie falsch es war, fett zu sein, und wie schlimm sie sich gefühlt haben? Was soll das?
Das ist so ein „Beichte und Absolution“ Prozess. Auf mich wirkt das sehr religiös. Es gibt eine Menge sozialen Druck und eine große Verlockung, diesem Muster zu folgen: Gewicht zu verlieren und anschließend jeden Bezug zu fettpositiver Politik und Ideen zu widerrufen. Das ist ganz offensichtlich sehr problematisch und zeigt nur, wie sehr fette Menschen marginalisiert werden.
Wenn sie nicht gerade auf ihre „Gesundheitsprobleme“ angesprochen werden, sind fette Menschen oft Herablassungen ausgesetzt. So als würde Fettsein immer für eine Art Scheitern stehen. Seit wann wird so verfahren? Seit wann ist Fettsein eine Fehlfunktion?
Körpergrößen und Essen werden schon lange mit Moral verknüpft. Einige unserer wichtigsten kulturellen Werte werden numerisch in Scheitern und Erfolg eingeteilt: Einkommen, Alter Gewicht und so weiter. In einer Kultur, die den Mythos der totalen Individualität wertschätzt, sind Qualitäten wie Disziplin und Kontrolle hoch angesehen. In einem System, in dem du auf niemanden angewiesen sein sollst, sind sie im Gegensatz zu Mitgefühl und Großzügigkeit verpflichtende Qualitäten. Das Problem besteht darin, dass wir schlanke Körper zu Individuen zugehörig empfinden, die diszipliniert sind und die Kontrolle haben. Und wir sehen fette Körper Individuen zugehörig, die keine Disziplin und Kontrolle aufbringen können. An diesem Punkt kommt das Narrativ vom Scheitern ins Spiel. Und für ein System, das so furchtbar und – wenn man es genauer betrachtet – unlogisch ist wie Fettphobie, muss dieses Narrativ besonders durchdringend sein und aufgezwungen werden.
Als Aktivistin wirkst du genauso zielbewusst wie achtsam, dich nicht über deine Grenzen zu überarbeiten. Was ist das Geheimnis hinter so einer Balance?
Betreibe Aktivismus, der dir gut tut und sich für dich authentisch anfühlt. Mach keine Sachen, die du hasst oder verabscheust. Mach Sachen, die du liebst! Wenn du die Person bist, die lieber einen Schal mit der Aufschrift “Liebe dich selbst!” strickt anstatt auf der Straße zu protestieren, dann strick den Schal – und andersherum! Ich zum Beispiel liebe Schreiben, Mode, Essen, nerdige Vorträge und Fatkinis Tragen. Du wirst feststellen, dass all diese Dinge in meinem Aktivismus sehr prominent vertreten sind.
Gibt es eine Gruppe, die besonders unter Fettphobie zu leiden hat oder ist das etwas, das bis zu einem gewissen Grad alle betrifft?
Fettphobie – wie jedes System von Unterdrückung – betrifft alle. Wir alle bezahlen den Preis für die Leiden von marginalisierten Menschen. Offensichtlich betrifft Fettphobie Menschen in Abstufungen. Je umfangreicher eine Person ist, umso mehr ist sie von Fettphobie betroffen.
Wie sind deine Erfahrungen mit Mehrfachdiskriminierung? Gibt es auch da Abstufungen wie zum Beispiel dass jemand zuerst und vor allem dafür diskriminiert wird, eine Frau zu sein, und dem nachgeordnet dafür, fett zu sein, oder passiert das gleichzeitig?
Ich habe den Eindruck, dass meine Identität am meisten davon geprägt ist, dass ich fett bin und bin dementsprechend ständig mit offenkundiger Fettphobie konfrontiert werde. Menschen haben ständig den Eindruck, sie dürften meinen Körper kommentieren. Einiges davon bezieht sich auch auf mein Geschlecht. Ich glaube, dass Frauen als weniger bedrohlich wahrgenommen werden und die Menschen deshalb glauben weniger Konsequenzen zu riskieren, wenn sie eine fette Frau verbal misshandeln. Gleichzeitig sind wir zu jedem Zeitpunkt alle Aspekte unserer Identität. Ich habe keine klare Vorstellung davon wie diese anderen Aspekte meine Erfahrung von Fettphobie beeinflussen.
Ich erinnere mich an eines der ersten Interviews, das ich vor einem Jahr von dir gelesen habe. In deiner Schilderung wie es dir ging, bevor du dich aus dem Fat Shaming erhoben und den Selbsthass abgelegt hast, fand ich eine Sache besonders spannend und irgendwie auch schockierend.Du hast davon gesprochen, dass du überzeugt warst, in dir gäbe es eine fragile, zierliche Person, die von deinem fetten Körper betrogen werden würde. Das ist für mich insofern bemerkenswert, als dass es in den meisten Gesellschaften gang und gäbe ist, zu glauben es gäbe ein inneres Selbst, das die eigentliche Person ist. Wir drücken das zum Beispiel aus wenn wir sagen „Man ist so alt wie man sich fühlt“. Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann ist unser inneres Selbst gerade nicht unser wahrhaftigstes Wesen sondern der Kern dessen, was von der Gesellschaft am meisten manipuliert und fremdbestimmt wird. Zudem ist es auch noch unfassbar schwierig, diese Manipulation zu beenden, weil wir uns dort gar nicht manipuliert sehen. Könntest du diesen Gedanken noch ein wenig mehr ausführen?
Stimmt. Jahrelang habe ich geglaubt, in mir würde ein dünnes Mädchen leben, das um jeden Preis aus mir heraus will. Ich habe es meinem Körper verübelt und ihn dafür gehasst, dass ich dachte, er sei ein Gefängnis für mein bestes Selbst. Ich glaube wir werden darin bestärkt zu glauben, dass unser wahres inneres Selbst zweifelsfrei unser schlankestes Selbst ist. Weil dünne Menschen als moralisch gelten (je schlanker, je moralisch einwandfreier) und fette Menschen für unmoralisch gehalten werden, muss qua Vorgabe unser wahres und bestes Selbst auch unser schlankestes sein.
Danke für deine Zeit und deine Geduld.
Das Interview für Pinkstinks führte Nils Pickert