Vom Luxus, kein Heimwegtelefon zu brauchen

Wenn fragile Männlichkeit nicht so grauenhafte und gewalttätige Konsequenzen hätte, wäre sie oft einfach nur ziemlich lächerlich: Vergangenes Wochenende machte die Schriftstellerin Simone Buchholz in den sozialen Netzwerken auf Gewalt gegen Frauen in öffentlichen Räumen aufmerksam. Sie verknüpfte das mit einem Hinweis auf die Nummer des Heimwegtelefons.

Dazu schrieb sie einen Kommentar darüber, wie befremdlich sie es findet, dass Männer diese Nummer mehrheitlich nicht kennen. Die Anrufenden sind in den meisten Fällen weiblich. Außerdem riefen Männer wenn, dann eher auch mal aus Langeweile oder Spaß an – Frauen vornehmlich aus Angst, erzählt eine Mitarbeiterin in einem Interview mit Watson. Weil es nicht das Problem der Männer ist. Weil es nicht Teil ihrer Welt ist, sich jedes verdammte Mal Gedanken darüber machen zu müssen, wie man abends sicher nach Hause kommt. Freundinnen Bescheid sagen, wo man ist, Schlüsselbund zwischen die Finger, unauffällig kleiden, 110 vorwählen. Das Übliche eben.

Was ist das Heimwegtelefon?

Das Heimwegtelefon ist ein Service, bei dem alle anrufen können, die sich auf dem Heimweg unwohl oder unsicher fühlen. Egal ob zu Fuß oder in der Bahn. Unter der Nummer +49 3012074182 sind Ehrenamtliche erreichbar, denen man den eigenen Standort und das Ziel mitteilen kann. Dann kann man mit der Person sprechen, bis man zu Hause ist.

Simone Buchholz machte also darauf aufmerksam. Ihr Tweet wurde dutzendfach als anstößig bzw. die Richtlinien von Twitter verletzend gemeldet, bis ihr eine zeitlich begrenzte Sperre drohte und sie sich genötigt sah, ihren Tweet zu entfernen. Twitter sah in der Veröffentlichung der Nummer des Heimwegtelefons einen Verstoß gegen die „Regel zur Veröffentlichung privater Informationen„. Ach so, Telefonnummern posten ist verboten? Nein, eigentlich nicht. Das Familienministerium zum Beispiel teilt ebenfalls Hilfe-Nummern in dem sozialen Netzwerk.

Trotzdem musste hier ein Kommentar gelöscht werden, der auf das reale Problem von Gewalt gegen Frauen in öffentlichen Räumen hinweist, der ein konkretes Hilfsangebot benennt und deutlich macht, wie unzureichend das Thema von Männern wahrgenommen wird. Wow. Das Patriarchat erweist sich wie immer als letztklassig.

Mittlerweile hat Twitter auf die Kritik reagiert und einen Fehler eingestanden. Das ist gut so. Trotzdem bietet der Fall eine gute Gelegenheit, sich einmal genauer anzuschauen, warum man(n) es sich leisten kann, von Hilfseinrichtungen wie dem Heimwegtelefon nicht zu wissen.

Das Problem mit den Good Guys™

Höchste Zeit also, um wieder einmal in die desinteressierten patriarchalen Echokammern zu schreien, wie beschissen die Lage ist. Und ja: Dabei sind selbstverständlich auch die Männer einzuschließen, die sich als Good Guys™ definieren, Gleichberechtigung irgendwie schon auch für wichtig, aber längst erreicht halten, und nicht sehen wollen, was noch ansteht.

Die bei jeder neuen Runde „OMG, es gibt tatsächlich Gewalt gegen Frauen“ wieder ganz von vorne anfangen. Mit „Ich weiß nicht“ und „Ich kenn keine“ und „Ist das wirklich so ein Problem?“. Ja ist es. Das war es bei #Aufschrei, genauso wie bei #ImZugpassiert, MeToo, Männerwelten und all den anderen Situationen, in denen vornehmlich Frauen darauf aufmerksam machen, wie tiefgreifend und allumfassend das Problem ist. Das wird es auch die nächsten Male sein, bis Männer ihre Verantwortung an dem Problem endlich annehmen. Denn es ist nicht nur der Typ, der sich nachts vor einer Frau aufbaut, um auf sein angebliches Recht, von ihr wahrgenommen zu werden, besteht. Es ist nicht nur der Typ, der ihr Angst macht, sie bedroht und sich in seiner gekränkten Männlichkeit übergriffig verhält. Es sind auch alle seine Freunde, die nichts sagen.

Alle seine Freunde, die „nicht die Stimmung verderben“ und „nicht übertreiben“ wollen. Die nicht klipp und klar sagen: „Wenn ich noch ein einziges Mal höre oder mitbekomme, dass du dich Frauen gegenüber so verhältst, dann ist unsere Freundschaft für mich beendet.“ Aber wie gesagt: An dem Punkt sind wir leider noch lange nicht. Wir stecken immer noch in der Situation fest, dass eine Einrichtung wie das Heimwegtelefon eine Verbesserung, ja eine notwendige Einrichtung für Frauen darstellt.

Die eigene Rolle im System hinterfragen

Wir bleiben auf der Tatsache hängen, dass Männer das Problem belächeln, kleinreden oder für inexistent erklären und Frauen damit alleine lassen. Zur Erinnerung: Es ist noch gar nicht so lange her, dass die Rheinische Post es für eine supertolle journalistische Idee hielt, kurz nachdem im Düsseldorfer Hofgarten eine Frau vergewaltigt wurde, einen männlichen Reporter nachts durch den Park zu schicken, um mal zu testen, ob es da wirklich so gefährlich wäre.

Der Journalist traf auf diverse Männergruppen, durchquerte eine Unterführung, sprach mit angetrunkenen Touristen. Und kam final zu dem Schluss, dass er sich auf seiner „nächtlichen Wanderung durch den Hofgarten zu keinem Zeitpunkt unsicher gefühlt hat“. Wie schön für ihn. Vielleicht hätte er besser daran getan, einen Bericht über das Heimwegtelefon zu schreiben. Und darüber, was dort für eine wichtige Arbeit geleistet wird. Ganz sicher ist es einmal mehr angebracht darüber nachzudenken, was die eigene Rolle als Mann in einem System ist, in dem Frauen Tag für Tag belästigt, bedroht und mit Gewalt konfrontiert werden.

Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich gelesenen Personen betreffen.

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Bildquelle: priscilla du preez/Unsplash