Warnung: Magersucht auf der Großleinwand

In den nächsten Tagen wird der Film „Seht mich verschwinden“ über die magersüchtige Schauspielerin Isabelle Caro in euer lokales Kino kommen. Dieser Blogeintrag ist ein Plädoyer, ihn euch nicht mit euren 12-Jährigen, Germanys Next Topmodel-begeisterten Kindern anzuschauen.

Wir werden von Pädagog*innen bundesweit angefragt, ob wir mit unserem Theaterpräventionsstück gegen Essstörungen auch in die 5. und 6. Klassen kommen könnten: Wir sagen stets „Nein“. In der Zusammenarbeit mit vielen Essstörungsberatungszentren haben wir 13 Jahre als untere Grenze für unsere Arbeit bestimmt: „Bloß keine schlafenden Hunde wecken!“ lautete der Rat von vielen Therapeut*innen. In einer Zeit, in der insbesondere Mädchen Wirkmächtigkeit über ihren Körper versprochen wird, übt Magersucht für viele einen großen Reiz aus. Selbst jene, die genug gesundes Selbstbewusstsein haben, um auf das große Hungern zu pfeifen, schauen fasziniert Mädchen nach, die ihre Krankheit nicht verstecken können und über diese definiert werden.

Es muss nicht erst die genetische Disposition für psychische Krankheit in der Familie vorherrschen um dieses gesunde Selbstbewusstsein in Gefahr zu bringen. Ein neuer Freundeskreis, Streit in der Schule, Stress in der Familie: Es gibt viele Gründe, warum ein Mensch anfängt, sich unwohl und ungesehen zu fühlen. Leider gibt es für dieses Unsichtbar-Fühlen in den Medien vorrangig eine Lösung: Abnehmen. Schlank sein. „Denn nichts schmeckt so gut, wie Dünnsein sich anfühlt“, sagte Topmodel Kate Moss, die sich mit ihren Maßen auf die Länge ganzer Busse zauberte. Mehr Sichtbarkeit geht nicht.

Wir können Mädchen in unserer Präventionsarbeit erklären, dass es sich noch viel besser anfühlt, mit seinen Gefühlen als nur mit der perfekten Taille gesehen zu werden. Dort haben wir wenigstens zwei Stunden Zeit mit ihnen und können Lehrer*innen anleiten, das Thema nachzubearbeiten. Wir können im Film hören, dass Hungern in die Sucht und in den Tod führen kann. Auch auf den Kindernachrichten „Logo!“ wurde schon versucht, über die Gefahren von Magersucht zu sprechen, in zwei Minuten. Was all diese kurzen Anrisse tun, ist Magersucht als Faktor darzustellen, der Aufmerksamkeit bringt: Nicht aber die Sorgen und Gedanken der Kinder aufzufangen, sich anzuhören, warum sie auch gerne so gesehen, so sehr schlank sein würden.

Viel besser als ich hat es aber Carolin Martinovic vom Therapienetz Essstörungen formuliert. Ihre Rezension des Films möchte ich deshalb hier in gekürzter Version abdrucken. Wie auch vor kurzem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung betont ist ihr Fazit: Magersucht ist vor allen Dingen eine Krankheit unserer Gesellschaft und unserer Zeit. Das erklärt der Film leider nicht.

Stevie

Carolin Martinovic: „Seht mich verschwinden“ – eine Rezension

Der Film „Seht mich verschwinden“ zeigt auf erschreckende Weise, wie eine junge Frau sich vor den Augen der Öffentlichkeit zu Tode hungert. Wir sind sehr erschrocken darüber, dass niemand Isabelle Caro motiviert, sich therapeutische Hilfe zu holen. Es gibt nicht eine einzige Szene im Film, in der es um mögliche Hilfe, um einen Weg aus der Krankheit geht.
„Seht mich verschwinden“ kann unserer fachlichen Einschätzung nach bei Menschen mit einer Magersucht zu einer Aufrechterhaltung der Krankheit führen. Durch ihre Krankheit bekam Caro die Aufmerksamkeit, nach der sie sich sehnte: Erst das Fotoshooting bei einem weltberühmten Fotografen, daraufhin unzählige Presseberichte, TV-Auftritte in der ganzen Welt, ihre Buchveröffentlichung und letztlich auch die Dreharbeiten zu dem Dokumentarfilm. Dies kann für andere Betroffene als Bestätigung angesehen werden: Nicht meine Persönlichkeit, mein wahres Selbst machen mich aus, sondern ich – und auch die Außenwelt – definiere mich ausschließlich über meine Krankheit. Durch sie bekomme ich Aufmerksamkeit, werde vielleicht sogar berühmt.
In der Dokumentation erzählt Caro viel von ihrer depressiven Mutter, das Vaterbild ist brüchig. Dem Zuschauer wird so vermittelt, dass Isabelle Caro durch eine höchst belastete Familie und die Überfürsorge ihrer depressiven Mutter in die Essstörung gedrängt wurde. Es kann der Eindruck entstehen, alle Familien, in denen ein Kind an einer Essstörung erkrankt, seien psychisch auffällig. Das ist aber nicht so. Magersucht ist eine psychische Erkrankung, die immer mehrere Ursachen hat, die bei jedem Einzelnen unterschiedlich sind. Die Familie kann eine Rolle bei der Entstehung einer Essstörung spielen. Ein psychisch erkrankter Elternteil kann ein Faktor sein. Aber es ist nur eine Möglichkeit unter vielen anderen möglichen Ursachen.

Isabelle Caro betont in dem Film oft, die Gesellschaft sei nicht mitverantwortlich für ihre Erkrankung. Damit widerspricht sie allen professionellen Erklärungsmodellen, die den Schönheits- und Schlankheitswahn als wichtigen Einflussfaktor benennen. Und sollte ihre Fotokampagne nicht genau darauf aufmerksam machen? Die Bilder super dünner Models und Schauspielerinnen prägen gerade die jungen Mädchen sehr. Ihr Selbstbewusstsein, ihr Körpergefühl und ihre Schönheitsideale formen sich natürlich unter dem Einfluss der medialen Darstellungen von Frauen. Letztlich ist auch Caro Opfer genau dieses Schönheitsideals und dem Wunsch nach einer gewissen öffentlichen Bekanntheit geworden. Eine ganz aktuelle Studie (siehe Maya Götz, Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen) konnte belegen, dass Medienformate wie „Germanys Next Topmodel“ die Entstehung einer Magersucht befördern. Die Gesellschaft kann und darf also nicht von einer Mitverantwortung freigesprochen werden.

Carolin Martinovic, Therapienetz Essstörung

Bild: Geeksisters / Romina