Warum die LGBTQI*-Community dieses Jahr ganz besonders viel Unterstützung braucht

Erinnert ihr euch noch, wie letztes Jahr unsere Social Media Walls von Rainbow-Produkten geflutet wurden? Zum 50-jährigen Stonewall-Jubiläum entdeckte eine breite Masse an Unternehmen – von Levis über adidas bis Katjes – die LGBTQI*-Community und ihre Verbündeten als zahlungskräftige Kund*innen und wollte sich ein Stück vom bunten Kuchen sichern. Dieses Jahr fällt der Farbrausch auf den Kanälen deutlich bescheidener aus. Dabei könnte die queere Gemeinde gerade in Zeiten von abgesagten CSDs und Pride-Paraden Unterstützung gebrauchen – wenngleich nicht unbedingt in Form von überteuerten Regenbogen-Kollektionen.

Viele wichtige LGBTQI*-Projekte sind durch die Corona-bedingten langen Schließungen gefährdet, womit die Vielfalt queerer Räume und Institutionen in Gefahr ist. Durch die abgesagten Pride-Paraden und Events entfällt für Aktivist*innen gleichzeitig die Möglichkeit, ihre Arbeit und Anliegen zu präsentieren und Spenden zu sammeln. Um zu verstehen, wie wichtig Sichtbarkeit und der Einsatz für die Rechte von LGBTQI*-Menschen sind, muss man nicht einmal in unser Nachbarland Polen schauen, das unlängst ganze Gemeinden zu LGBTQI-freien Zonen erklärt hat. Oder nach Ungarn, wo die Rechte von Trans- und Inter-Personen unter Viktor Orbán massiv eingeschränkt wurden. Wenn auch versteckter, liegt auch hierzulande vieles im Argen, wie die aktuellsten Ergebnisse der Studie „A long way to go for LGBTI equality“ verdeutlichen. 140.000 Menschen ab 15 Jahren wurden EU-weit nach ihrem Umgang mit ihrer Sexualität befragt. Alle Teilnehmenden beschrieben sich selbst als lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell oder intersexuell. Aus Deutschland nahmen mehr als 16.000 Menschen teil.

Frei und akzeptiert fühlen sich Queers hierzulande mitnichten. So leben in Deutschland 43 Prozent aller Menschen mit LGBTIQ-Bezug etwa ihre sexuelle Orientierung nicht offen aus und scheuen sich zum Beispiel, in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten auszutauschen. Diese Zurückhaltung hat ihre Gründe: 36 Prozent der Teilnehmer*innen in Deutschland sind laut der Studie in den letzten zwölf Monaten vor der Umfrage belästigt worden; 13 Prozent wurden in den vergangenen fünf Jahren auch körperlich oder sexuell angegriffen. Die jüngsten Vorfälle ereigneten sich am Wochenende. Rund um die alternative PRIDE-Parade in Berlin kam es zu Übergriffen. Auch das lesbische Zentrum RuT Ziel wurde erneut Opfer Lesben-feindlicher Attacken.

Ausgrenzung und Diskriminierung gehört nach wie vor zum Alltag vieler Queers. Was oftmals zu einem permanenten, energieraubenden Versteckspiel führt.

Auch im beruflichen Umfeld ist die Lage alles andere als entspannt. Laut der aktuellen OUT@Work-Studie der Unternehmensberatung Boston Consulting legen nur 37 Prozent der deutschen LGBT-Talente ihre sexuelle Orientierung vor ihren Arbeitskolleg*innen offen. 22 Prozent befürchten, dass ein öffentliches Bekenntnis zu ihrer Sexualität ein Karriererisiko bedeutet. 42 Prozent geben sogar an, dass sie in Gesprächen mit Vorgesetzten über ihre sexuelle Orientierung lügen. Und das in Zeiten, in denen jedes Unternehmen, das etwas auf sich hält, eine eigene Diversity-Abteilung hat?

Vielfalt wird hierzulande noch viel zu häufig ausschließlich an Gender festgemacht. So fokussieren Unternehmen ihre Diversity-Anstrengungen meist darauf, auf allen Ebenen ein einigermaßen ausgeglichenes Verhältnis zwischen männlicher und weiblicher Belegschaft zu etablieren – mit mäßigem Erfolg. Von einem bewussten Werben um queere Talente keine Spur. Dabei wären es nicht zuletzt die Firmen, die von den vielfältigen Perspektiven profitieren würden. So ist sich die BCG-Studienautorin Annika Zawadzki sicher: „Vielfältiges Denken ist ein Gewinn für jedes Team.“ Sie plädiert dafür, Diversity endlich über Gender hinaus zu denken, und glaubt, dass Unternehmen, die das Potenzial von LGBTQI-Personen nicht erkennen, über kurz oder lang ins Hintertreffen geraten.

Wie wäre es also, wenn die Konzerne in diesem Jahr nicht nur ihre Logos in Regenbogenfarben tauchen, sondern einen Rahmen gestalten würden, in dem sich LGBTQI*-Talente willkommen fühlen und frei entfalten können?

Wie wäre es, wenn queere Kultur nicht nur zur Imagepolitur herhalten müsste, sondern die Community in diesem besonderen Jahr etwas zurückbekommen würde, sei es in Form von finanzieller Unterstützung oder auch dadurch, ihr die Reichweite, über die die großen Marken verfügen, zur Verfügung zu stellen?

Fakt ist, in Zeiten von abgesagten Pride-Paraden fehlt es der Community nicht nur an Einnahmen, sondern auch ganz besonders an Sichtbarkeit, denn in einem Land, in dem sich Medien nach wie vor des heteronormativen Mainstreams bedienen und queere Persönlichkeiten allenfalls in den gängigen Stereotypen abbilden, bleiben die bundesweiten CSDs die wichtigste Plattform, queere Vielfalt zu zeigen und mit eingefahrenen Vorstellungen aufzuräumen. Gleichzeitig könnten unzählige wichtige Petitionen und queeren Anliegen Support gebrauchen. Wie beispielsweise die Forderung nach Aufhebung des Transsexuellengesetzes und die Einführung eines Selbstbestimmungsgesetztes. Oder die längst überfällige Anerkennung von Zwei-Mütter-Familien, die durch das geplante Adoptionshilfe-Gesetz, das am 3. Juli auf der Tagesordnung des Bundesrates steht, noch schärfer diskriminiert werden würden.

Doch anstatt echte Solidarität zu zeigen und die Community zu unterstützen, canceln die Unternehmen dieses Jahr lieber ihre Pride-Kollektionen – zumal die CSDs als Catwalks wegfallen – und sehen sich bereits nach neuen Bewegungen um, die sie vermarkten können. Wir kennen dies bereits vom Feminismus und dem sogenannten Pink-Washing. Mal sehen, was nächstes Jahr über unsere Walls flattert.

Bis auf Weiteres wählt die Community eine altbewährte Methode: Sie hilft sich selbst. So hat LIBERTINE beispielsweise eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, mit deren Hilfe nicht nur Visibility-Aktionen realisiert werden sollen. Die Dankeschöns für die Spender*innen kommen direkt aus der queer-feministischen Gemeinde und reichen von feministische Bücherboxe über Superqueer Shirts bis hin zu Selbstliebe-Workshops für Queers. Ein Teil der Spenden geht direkt an andere LGBTQI*-Projekte. Gleichzeitig organisieren sich viele Gruppen, um kleine, politische CSDs – fernab der kommerziellen Paraden der letzten Jahre – zu ermöglichen.

So schwierig diese Corona-geprägte PRIDE-Saison auch ist, vielleicht lässt sie die Community letztendlich wieder ein Stück näher zusammenrücken und sich auf ihre alten Werte besinnen.

Text: Juliane Rump

Bildquelle: Unsplash

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