Was ist eigentlich dieses „nicht-binär“?

Binarität bedeutet: entweder/oder. Null oder eins. An oder aus. Gut oder schlecht. Stark oder schwach. Dazwischen gibt es nichts. Keine Nuancen, keine anderen Möglichkeiten, keine Überlappungen oder Veränderungen. 

So war lange Zeit das vorherrschende Geschlechterbild. Lebenslang Mann oder Frau, Mars oder Venus, Penis oder Vulva. Sonst nichts. 

Diese strikte Zuordnung und Einteilung bringt viel mehr mit sich als nur ein oberflächliches Label. Zum Beispiel, wie ein Körper auszusehen hat und welche Kleidung als angemessen gilt. Oder welche Eigenschaften und Fähigkeiten jemandem zugetraut und zugestanden werden – Mathe und Einparken oder Muffins backen und Eyeliner ziehen. Aber auch, wer sich auf eine bestimmte Weise verhalten muss oder darf – unter anderem in Sachen Sexualität. 

Das kann ganz schön einengend sein. Klar, für eine patriarchale Gesellschaftsordnung ist es wichtig, zu bestimmen, wer ein Mann ist und damit mehr Chancen, Macht und Einfluss bekommt und wer als Frau die Kinder zu versorgen hat. Aber diese Zweiteilung – oder eben Binarität – wird der menschlichen Vielfalt nicht gerecht. Bei Weitem nicht.

Nicht-binäre Geschlechtsidentität bedeutet also, nicht in eine von nur zwei möglichen, engen Schubladen zu passen. Oder passen zu wollen. Zum Beispiel, weil jemand nicht auf traditionelle Rollenbilder reduziert werden möchte und sich deshalb das Label „Mann“ oder „Frau“ einfach nicht richtig anfühlt. Dabei kann nicht-binär (non-binary) auch als Sammelbegriff für verschiedene Geschlechtsidentitäten, die nicht männlich oder weiblich sind, verwendet werden. Einige Personen sind auch genderfluid – mal das eine, mal das andere: Also gar keine fixe geschlechtliche Identität.

Geschlechtsidentität (Englisch „gender“) kann somit unabhängig vom biologischen Geschlecht (Englisch „sex“) sein: Manche Menschen mit Penis identifizieren sich als Frau, manche Menschen mit Uterus als Mann – das nennt man trans-Identitäten. Menschen, die sich als weder noch identifizieren, nennen manche trans, andere non-binary (nicht-binär). Non-binary wird manchmal zu trans hinzugezählt, manchmal nicht. Und, ach, intergeschlechtliche Personen können auch eine Geschlechtsidentität haben. Oder eben keine. 

Es gibt in der Realität eben nicht nur typische Männer und Frauen – es gibt Menschen mit Geschlechtern außerhalb von binären Konzepten; Menschen mit vielen oder allen Geschlechtern; Menschen zwischen männlich und weiblich oder mit veränderlichen, einzigartigen Geschlechtern.

Nicht-binäre Personen kleiden sich auch nicht immer automatisch androgyn. Sie drücken ihr(e) Geschlecht(er) aus, wie sie wollen; nicht, wie es die Gesellschaft vorschreibt. 

Und die sexuelle Orientierung – also, ob jemand auf Frauen, Männer, beides, alles dazwischen oder gar nichts steht – ist übrigens noch mal eine andere Sache und unabhängig von der eigenen Geschlechtsidentität.

Einer der wichtigsten Erklärungen zu Geschlechtsidentität ist Judith Butlers Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ von 1990. Darin erklärt Butler, was es mit dem soziokulturellen „gender“ auf sich hat.

Gender entsteht laut Judith Butler dadurch, dass bestimmte Handlungen immer wieder ausgeführt werden. Darunter fällt alles, was als „typisch“ gilt. Zum Beispiel Jungs, die sich beim Vorschulfasching als Piraten verkleiden und Mädchen als Prinzessin. Oder, dass Männer sich oberkörperfrei beim Grillen mit Flaschenbier ums Feuer scharen und die Frauen in der Küche beim Prosecco den Salat schnippeln. Männer begrüßen sich mit schmetterndem Schulterklopfen, Frauen mit Küsschen. Und so weiter. 

Durch diese Handlungen werden Menschen als Mann oder Frau markiert und in die vermeintlich entsprechende Schublade gesteckt. Das Ganze ist quasi wie eine ständige Aufführung. Dabei dient der Körper als Leinwand, auf dem der Identitätsfilm für alle sichtbar abgespielt wird. Ohne diese wiederholten Handlungen, so Butler, würde es keine feste Vorstellung von Geschlecht geben. Wir konstruieren es.

Wer hingegen anders aussieht oder sich nicht wie erwartet verhält – zum Beispiel ein Mann, der Rock und Nagellack trägt oder eine Frau, die oben ohne mit Flaschenbier am Grill steht – sendet Signale, die sich nicht zuordnen lassen. Diese Unklarheit sorgt bei manchen Menschen für Orientierungslosigkeit und Verunsicherung – und kann sogar zu Ablehnung und Hass führen, weil sie das Weltbild ins Wanken bringt. „Wir bestrafen regelmäßig diejenigen, die ihr Geschlecht nicht richtig ausüben“, schreibt Judith Butler. 

Das ist unter anderem auch der Grund dafür, dass homosexuelle Paare so häufig gefragt werden, wer in ihrer Beziehung der Mann und wer die Frau ist. Dahinter steckt die vom Patriarchat zu Fortpflanzungszwecken und Machtstruktur verordnete Heterosexualität. Die ergibt als „natürliche Norm“ nämlich nur dann Sinn, wenn Geschlechter strikt in Mann und Frau eingeteilt werden.

Und noch mal zu der Sache mit Vulva und Penis: Auch das bei der Geburt zugeordnete biologische Geschlecht ist nicht immer zu 100 Prozent eindeutig männlich oder weiblich. In Deutschland kommen pro Jahr schätzungsweise 15 bis 150 Babys mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen zur Welt. 

In anderen, nicht-westlichen Kulturen wird Geschlecht übrigens weniger strikt zugeordnet. In Teilen der indigenen Bevölkerung Nordamerikas gibt es zum Beispiel die Two-Spirit-People

Alles zu kompliziert? Nur auf den ersten Blick. Es ist vor allem ungewohnt. Vielleicht hilft das hier als kleine Veranschaulichung: Das Wetter ist auch nicht entweder nur Sonne oder nur Regen. Es gibt sanften Nebel, krachende Gewitter, glitzernden Schnee, tosende Stürme … und wechselhaftes Wetter mit wunderschönen Regenbögen. So ähnlich gibt es auch nicht nur zwei feste, gegensätzliche Geschlechter. Sondern Abstufungen und Vielfalt. Denn Geschlecht hat viele Facetten, genau wie das Leben.

Korrekturhinweis:
Wir haben diesen Artikel am 11.05.22 überarbeitet. In der ursprünglichen Version haben wir für Judith Butler ein falsches Pronomen verwendet. Butler ist nicht-binär und nutzt she/they-Pronomen.

Bildquelle: Pawel Czerwinski/Unsplash

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