Das fragen wir uns auch oft. Es ist nämlich nicht immer leicht, genau zu sagen, was Shaming ist, und was nicht. Und warum sprechen wir nicht vom gutdeutschen Wort „beschämen“? Schon wieder ein englisches Wort, das man nachschlagen muss. Geht das denn nicht anders?
Die Antwort ist, dass die feministische Benutzung des englischen Wortes Shaming ähnlich ist, aber nicht dasselbe wie „beschämen“. Shaming bezeichnet eine Brandbreite an Verhaltensweisen. Es ist einerseits „sich lustig machen über“, andererseits „verurteilen“ oder „meinen, jemand sei selbst schuld“. Ein ziemlich komplexer Haufen an Bedeutungen. Wo genau verorten sich unsere Shaming-Grenzen*? Die werden täglich immer wieder neu diskutiert und eruiert. Weil es nicht einfach ist. Schaut mal rein in eine Diskussion, die unsere Köpfe rauchen lässt.
Wie ihr wisst, sind wir Stinkers streng. „Shaming“ oder „Bashing“ nennen wir es, wenn sich über Models aufgeregt wird, die sich „für so etwas her geben“. Diese fünf Worte lesen wir oft auf Facebook, wenn wir sexistische Werbung oder Sendungen diskutieren, und ermahnen die Schreibenden. „Die Nachwuchsmodels sind doch selber schuld, wenn sie von Heidi fertig gemacht werden“ ist für uns kein Argument. Wir wenden uns mit unseren Protesten an die Werbeindustrie, Fernsehsender und erwachsene Produzent*innen, die mit einem bestimmten Frauenbild Geld verdienen, das einengt, verfügbar wirkt und mangelndes Selbstbewusstsein und Körperhass für Mädchen befördert. Wir wollen kein Mädchen und keine Frau kritisieren, die ihr Geld mit einem Rollenbild verdient und / oder sich durch ein Rollenbild ermächtigt fühlt, das für andere einengende Vorgabe ist. Unser Protest geht deshalb auch nicht an Heidi Klum als Model, sondern als Namensgeberin und Profiteurin einer Show, die Mädchen verunsichert. Unser Protest geht aber vorrangig an ProSieben. Er geht ganz sicherlich nicht an die Nachwuchsmodels von GNTM oder die Mädchen und Frauen, die sich von der Show unterhalten lassen.
Deshalb findet unsere Protestaktion gegen GNTM auch nicht direkt vor der Lanxess Arena statt, wo unsere Transparente und Aktionen Mädchen in eine merkwürdige Gefühlslage bringen könnten. Sie haben über 80 Euro ausgegeben und sich schon lange darauf gefreut, ihren Idolen zuzujubeln. Ob wir sie wirklich „beschämen“ würden, ist nicht gewiss. Das deutsche Wort beschämen suggeriert das Bild von einem kleinen Hund, der sich reuig die Tatze über die Augen hält. „Shaming“ im feministischen Sprachgebrauch ist das Verurteilen von Menschen, die nicht einem politisch-idealisierten Frauenbild entsprechen. Bei Pinkstinks gibt es kein solches idealisiertes Bild. Wir wiederholen immer wieder, dass wir keinem Mädchen sein Pink absprechen möchten und sicher nicht wollen, dass neuerdings Mädchen nur noch Mathe verrückt sind, Skateboard fahren und bloß keine Highheels tragen. Wir kämpfen für die Möglichkeit der Vielfalt und Entfaltungsmöglichkeiten. Nicht gegen den Wunsch von Mädchen, gesehen werden zu wollen. Und gesehen und gelobt werden sie heute am ehesten im Frauentypus „Nathalie“, „Ivana“ oder „Heidi“. Daneben möchten wir gerne andere role models sehen, und die zeigen wir am 8. Mai auf dem Bahnhofsvorplatz in Köln. Wir sind nicht besser, wir sind nur „auch“.
Die große Frage ist nun, wie man die Kritik an der Übermacht des großen, schlanken, passiven Modelbildes ausdrückt, ohne zu „shamen“. Natürlich werden Gedichte, die auf den Models rumhacken, von uns nicht prämiert. Aber wo fängt Shaming genau an? Was dürfen wir verbreiten, prämieren, auf Facebook stellen? Wann machen wir uns der Verbreitung von Shaming schuldig?
Neulich bekamen wir dieses großartige Video der Poetry Slammerin Fee zu sehen.
Gleich begann bei uns das kritische Hinterfragen. Macht sie sich über Models lustig, oder analysiert sie genial, warum uns das ProSieben-Frauenbild als Vorbild für Mädchen wütend macht? Darf man das grammatikalisch unsaubere Deutsch manch einer Modelanwärterin nachmachen, oder besser: Dürfen wir das verbreiten? Wir hören oft genug, wir seien „klassistisch“, also diskriminierend gegenüber geringerem Einkommen oder Bildung. Wie drückt man aber den Wunsch nach Entfaltungsmöglichkeiten für alle Mädchen aus, ohne vor einer Eingrenzung durch die Massenmedien zu warnen? Erhebt man sich dann über die Menschen, die diese Medien konsumieren? Erhebt man sich über Menschen, wenn man aufzeigt, wie sich ProSieben und RTL über sie lustig machen? Was Fees Text macht, ist mit Humor jungen Frauen aufzuzeigen, was ihnen als Idol vorgegeben wird: Ein Mädchen zu sein, die sich sagen lässt, was sie zu tun, zu essen und wie sie zu sein hat, und nur vom Fernsehen geliebt wird, wenn sie sich naiv gibt (oder ist). Und sie versucht, eine – gerade für Mädchen mit verletztem Körperbild – dringend notwendige Wut dagegen aufzubauen. Das geht, gerade in einer Generation, die rationalen Erklärungen von Feministinnen sehr kritisch gegenüber steht, besonders gut mit Humor. Wir schätzen dieses Video als hilfreich im Kampf gegen Essstörungen, Körperdysmorphie und Selbsverletzungen ein. Aber wir teilen es nicht auf Facebook, weil wir dann wieder so viel Ärger bekommen (und zurzeit so viel zu tun haben, dass uns die Verteidigung überfordern würde). Nicht von denen, die selbst hungernde Töchter haben oder mit jenen arbeiten, die sich wirklich zwanghaft um ihr Aussehen drehen. Sondern von denen, die uns genau überwachen, und die Momente herauspicken, wo wir in ihrem Sinne nicht feministisch sind. Leider sind erstere selten auf Twitter. Die anderen schon.
Auch das Video „Stupid Girl“ der Sängerin Pink kann man auf verschiedene Weisen lesen.
https://www.youtube.com/watch?v=FDBrhltUhgk
Als englische Muttersprachlerin verstehe ich „stupid“ im Sinne von „silly“ (albern, töricht), im Gegensatz zu „daft“ (bescheuert, dämlich). Natürlich wird sich auch hier über eine bestimmte Identifikationsmöglichkeit lustig gemacht, aber Pink nimmt sich selbst aus diesem Bild nicht aus, im Gegenteil. Sie stellt ihren eigenen Fitnesswahn und ihre Not, mithalten zu müssen, zur schau – nicht, ohne darüber auch zu lachen. Dieses Lachen, ob über sich selbst oder andere, ist auch an der Grenze zur Unsensibilität. Das stimmt. Wenn ein Paris-Hilton-Double gegen eine Glaswand rennt – ist das nett? Nein, absolut nicht. Aber wieso wollen alle von einer Paris Hilton lesen? Da hat Pink einfach recht: That’s stupid!
Wiederholt hat Pink thematisiert, dass Plattenproduzenten ein Frauenbild von ihr erwarten, das sie stresst; Pink selbst ist stets gebräunt, geschminkt und oft auch lasziv ihn ihren Videos zu sehen und verdient auch gut mit ihrem aparten Auftreten. Schönheit ist auch Ermächtigung, aber nicht immer, und sicher nicht so nachhaltig wie Bildung, Durchsetzungsvermögen und ein Selbstbewusstsein, das auf letzteren Qualitäten aufbaut. In diesem prekären Spannungsverhältnis bewegt sich auch die Kritik, die Pinkstinks anbringt. Frauen mit Essstörungen, denen ich Pinks Video zeigte, fühlten sich nicht „geshamed“: Ihr Video thematisiere ganz klar das Dilemma der Ansprüche an Frauen heute. (Achtung: Ich sage damit nicht, dass andere Frauen sich nicht kritisiert fühlen könnten!) Gerne könnt ihr uns auch eure Meinung dazu mitteilen. Das Video erreicht durch seinen Humor viele junge Menschen und stellt einen Gegenpart zu den vielen sexistischen Musikvideos, in denen Frau als Verschönerungsobjekt unhinterfragt bleibt. Wir selbst würden so einen Film nicht erstellen, wir arbeiten anders. Aber Pink dafür zu feiern, dass sie – innerhalb des Mainstreams – versucht, eine Botschaft zu vermitteln, die sonst keine Plattform findet – das trauen wir uns. Man könnte argumentieren, dass ihr Video nur funktioniert, weil es „shamed“ – so wie GNTM sich über „Dummchen“, „Zicken“ oder „Diven“ lustig macht. Das ist Ansichtssache. Ich persönlich sehe ein eigenes Hadern darin. „I don’t want to be a stupid girl!“ singt Pink kopfschüttelnd, und es zeigt, wie schwer es auch ihr fällt, der Versuchung, von allen geliebt zu werden, zu widerstehen.
Um möglichst viele Menschen zu erreichen, müssen wir den Mainstream und seine Unterhaltungsformen bedienen, und dabei laufen wir oft auf Messers Schneide. Kritik an möglichem Shaming, das wir begehen, wird von uns ernst genommen, wir sind dazu gerne mit euch im Diskurs. Überzogene Kritik an uns in der Form des Angriffs: „Was wagt ihr, vorzuschreiben, was wer konsumieren oder in welcher Farbe tragen darf?“ nehmen wir aber nicht ernst. Wer mit Kindern einkaufen geht oder mit ihnen Fernsehen schaut, weiß, dass nicht wir die Diktator*innen sind, sondern eine übermächtige Medien- und Warenindustrie. Witziger Weise kommt diese Kritik an uns von anderen progressiven, sozialkritischen Menschen. Die konservativen Neoliberalen, die Gender-Marketing perfektionieren, lachen sich dazu ins Fäustchen. „Richtig! Gebt den Mädchen endlich, was sie wirklich wollen! GNTM, Highheels für Siebenjährige und Winx Feen! Und hört auf, sie zu beschämen!“ Nee, klar. Manchmal ist eben verkehrte Welt. Dann sind wir die bösen, die diskriminieren. Wir sollten uns die Tatzen über die Augen halten.
Stevie Schmiedel
* Ich spreche hier nicht dezidiert von Sex-Shaming (früher: Slut-Shaming), dazu braucht es einen weiteren Raum. Unsere Grenze hier ist glasklar. Sex-Shaming greift Frauen für ihre Kleidung oder ihre Verhaltensweise an und redet ihnen hierfür Schamgefühle ein. Insbesondere für sexualisierte Übergriffe werden Frauen auf diese Weise selbst verantwortlich gemacht. In diesem Text geht es um die Grenzen eines anderen „selbst-schuld-Seins“: Am hochgenommen werden, Essstörungen haben, nicht emanzipiert sein. Und auch daran trägt niemand schuld, und sollte auch so nicht dargestellt werden.