Wer Lust auf eine schön schnulzige RomCom hat, findet unter all den Liebesfilmen vor allem eine typische Geschichte: „Boy meets Girl“. Aber warum eigentlich nicht „Girl meets Girl“? Oder „Nonbinary person meets trans boy?”. Oder auch „Boy meets bisexuelles Poly-Paar“?
Tja, das liegt an der Heteronormativität. Heteronormi …Hetenomitivi… Heteronormativität. He-tero-norma-tivi-tät. Wieder so ein schwieriges Wort. Aber keine Panik – das lässt sich auseinandernehmen.
Hetero kommt aus dem Griechischen und bedeutet unterschiedlich, anders. Normativität kommt von Norm, also normal.
Heteronormativität ist die grundlegende Annahme, dass es nur zwei Geschlechter gibt – also Mann und Frau. Und dass diese sich gegenseitig anziehen. Das gilt als gesellschaftlicher Standard. Darum so oft „Boy meets Girl“. Heteronormativität beeinflusst auch, wie über Geschlecht, Liebe und Sexualität gesprochen und geschrieben wird – was als normal und nicht normal dargestellt wird.
Nur: Wieso ist das eigentlich die Norm und wer bestimmt, was normal ist?
Schau dir hier unser Video mit Avi Jakobs zum Thema an:
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Was ist eine Norm?
Eine Norm hängt, wie gesagt, mit Normalität zusammen. Normal ist für uns das, was wir am häufigsten wahrnehmen. Laut einer aktuellen Statista-Umfrage geben 97 Prozent der 23.000 Befragten in Deutschland ab 58 Jahren aufwärts an, heterosexuell zu sein – aber nur noch 87 Prozent der ab 1995 geborenen Volljährigen. Davon identifizieren sich sieben Prozent als homo- oder bisexuell, während weitere drei Prozent sich selbst als pansexuell, asexuell oder queer bezeichnen.
Obwohl also das Spektrum von Generation zu Generation sichtbarer wird, nehmen wir Heterosexualität in Medien und Co. nach wie vor am häufigsten wahr.
Eine Norm ist aber mehr als nur reine Normalität. Sie beinhaltet zusätzlich noch Regeln und bewertet Verhalten. So wird aus häufig und selten die Einordnung richtig und falsch.
Eine Norm ist also eine Verhaltenserwartung, nach der sich alle wie die Mehrheit verhalten sollen – oder es stimmt was nicht.
Was genau bedeutet Heteronormativität?
Das komplizierte Wort Heteronormativität wurde Anfang der 1990er von dem US-Literaturwissenschaftler Michael Warner geprägt. In seiner Einleitung zu Fear of a Queer Planet bezeichnet er damit ein System aus Verhaltensregeln in einer Gesellschaft, nach dem jeder Mensch heterosexuell ist oder sein sollte.
Heteronormativität besteht aus drei Annahmen:
- Es existieren nur zwei Geschlechter (Mann und Frau). Und das bei der Geburt zugeordnete Geschlecht stimmt dabei mit der eigenen Geschlechtsidentität überein – Zweigeschlechtlichkeit.
- Mann und Frau finden sich nur gegenseitig gut – heterosexuelles Begehren.
- Das ist natürlich, so soll es sein – Norm.
Daraus ergibt sich die in der Gesellschaft verbreitete Ansicht, die besagt: Hetero sein ist normal, alles andere ist es nicht. Doch dieses vorherrschende Wertesystem hat konkrete Konsequenzen. Nämlich für alle, die nicht in dieses enge, starre Korsett passen.
Was sind die Folgen?
Heteronormativität gibt vor, wie Menschen als Männer und Frauen miteinander umgehen sollen und welche sozialen Erwartungen sie zu erfüllen haben, um in der Gesellschaft als normal zu gelten und akzeptiert zu sein. Täglich gibt es Situationen, in denen wir quasi gezwungen sind, uns entweder als Mann oder als Frau zu kategorisieren. Eine andere Option gibt es häufig nicht – ob beim Ärzt*innenbesuch, Onlineshopping oder einer einfachen Bahnfahrt.
Wer beispielsweise eine Fahrkarte bei der Deutschen Bahn buchen wollte, musste sich bei der Angabe des Geschlechts bis vor Kurzem noch entscheiden: „Herr” oder „Frau”. Weitere Optionen der Anrede wie etwa „divers” gab es nicht. Somit ließ das Unternehmen Menschen, die sich nicht eindeutig dem zweigeschlechtlichen System zuordnen, keine Wahl. Und das ist diskriminierend. Das hat auch das Oberlandesgericht Frankfurt am Main entschieden: Ab 2023 muss endlich auch bei der Deutschen Bahn eine geschlechtsneutrale Anrede zur Auswahl möglich sein.
Auch in Kunst und Kultur findet sich hetero als Standard wieder – siehe Romantik-Filme oder Werbung. Selbst, wenn sich das langsam ändert: Der Mainstream ist nach wie vor „Boy meets Girl“.
Doch Werbung, Filme und Bücher sind nicht das größte Problem. Die ganze Gesellschaft ist heteronormativ organisiert. Das wirkt sich auf den Lebensalltag vieler Menschen aus. Wer die Erwartungen der Heteronormativität nicht erfüllt und nicht in die zweigeschlechtliche, heterosexuelle Ordnung passt, wird als „anders“ und „nicht normal“ einsortiert. Und dann eingeschränkt, diskriminiert, ausgegrenzt oder sogar verfolgt.
Heteronormativität prägt auch politisches Handeln, zum Beispiel in Form von diskriminierenden Gesetzen. Wenn Regenbogenfamilien rechtlich benachteiligt werden. Wenn die amtliche Personenstandsänderung für trans* Personen eine teure, erniedrigende Prozedur ist. Oder wenn Homosexualität unter Strafe steht. Bis 1994 war Homosexualität übrigens in Deutschland noch strafbar.
Diese Diskriminierungserfahrungen wirken sich auch negativ auf die körperliche und psychische Gesundheit aus. Laut einer Studie des DIW aus 2021 sind Menschen, die nicht der zweigeschlechtlichen, heterosexuellen Norm entsprechen, unter anderem dreimal häufiger von Depressionen und Burnout betroffen, fühlen sich doppelt so oft einsam und haben ein deutlich erhöhtes Vorkommen von Herzkrankheiten im Vergleich zur restlichen Bevölkerung in Deutschland.
Woher kommt das, dass die Gesellschaft so tickt?
Heteronormativität dient dazu, Machtverhältnisse zwischen den (zwei) Geschlechtern zu zementieren.
In einer patriarchalen Gesellschaft ist es sehr wichtig, Menschen klar in entweder Mann oder Frau einteilen zu können. Denn im Patriarchat ist das Männliche dem Weiblichen überlegen. Das Männliche hat Macht, Freiheiten und Ressourcen; das Weibliche nicht oder weniger. Da muss klar sein, wer was bekommt und darf. Und wer nicht.
Das hat auch mit Arbeitsteilung zu tun. Das Weibliche ist im Patriarchat für Haus- und Sorgearbeit sowie Gefühle zuständig; das Männliche für Sachlichkeit, Stärke, Geld. Und deshalb hören homosexuelle Paare oft die Frage: „Wer ist bei euch der Mann/ die Frau?“
Menschen, die sich da nicht klar zuordnen lassen, stören und zermürben durch ihre bloße Existenz die bestehenden patriarchalen Machtverhältnisse.
Gehört das so?
Heteronormativität passt nicht auf alle Menschen. Natürlich wird und soll es weiterhin Geschichten wie „Boy meets Girls” geben – und das ist auch okay. Aber es müssen auch die Geschichten „Nonbinary person meets trans boy” und „Girl meets Girl” erzählt werden, um das einengende und schädliche Konzept der Heteronormativität zu überwinden.
Das heteronormative System greift sogar soweit, dass es auch unsere Vorstellung und Wahrnehmung von Körpern bestimmt – also was wir als typisch weiblich und typisch männlich lesen. Zur Verdeutlichung: Es gibt große weibliche Körper mit mehr Muskeln oder Körperbehaarung genauso wie schmalere männliche Körper. Manche Menschen haben breite Schultern und runde Hüften.
Auch Begehren ist nicht ausschließlich heterosexuell. Das war für einen Teil der Menschheit schon immer so, das ist nichts Neues. Und Bisexualität ist auch keine „experimentelle Phase“.
Heteronormativität ist etwas, das Menschen sich ausgedacht haben – nicht die Natur. Anderssein oder Normalsein ist beides eine Frage der Perspektive. Vielfalt gehört dazu, sie macht das Leben bunter; Toleranz und Verständnis machen es besser.
Wie sich heteronormatives Verhalten vermeiden lässt:
Wichtigste Regel: offen und neutral formulieren und Annahmen vermeiden.
- Statt: „Bringst du deine Frau mit?“ lieber: „Kommst du in Begleitung?“
- Statt: „Hier, ein Bier und ein blutiges Steak!“ lieber: „Worauf hast du Appetit?“
- Statt: „Das ist viel zu schwer für dich, Püppi!“ lieber: „Brauchst du dabei Hilfe?“
- Statt: „Hast du einen Freund?“ lieber: „Bist du aktuell in einer romantischen Beziehung?’“
- Statt: „Der Mann da in der letzten Reihe.“ lieber: „Die Person im blauen Pulli in der letzten Reihe.“
- Statt: „Sie sind also Frau Müller-Lüdenscheidt?“ lieber: „Wie möchten Sie angesprochen werden?”
Weiterführende Links und Informationen
Das Missy Magazin erklärt: Hä, was ist denn nicht-binär? Und: Ein binäres System ohne Zweigeschlechtlichkeit.
Soll Geschlecht jetzt abgeschafft werden? Nope! Stattdessen geht es um mehr Freiheit und Individualität, wie Geschlecht gelebt werden kann: Der Bundesverband Trans* hat 12 Fragen und Antworten zum Selbstbestimmungsgesetz und Trans* Sein zusammengetragen. Warum die aktuelle Rechtslage für trans* Personen diskriminierend ist, welches Potenzial im geplanten Gesetzesentwurf steckt und was ihr tun könnt, um euch für eine gerechte Gesetzgebung einzusetzen, haben wir hier für euch zusammengefasst.
In dem Artikel „Heteronormativität: Erfahrungen von jungen lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Menschen“ diskutiert Kerstin Oldemeier die Erkentnisse der bundesweiten Studie „ Coming-out – und dann…?!“.
Fachbeitrag von David Johann Lensing zu Judith Butlers Buch Unbehagen der Geschlechter.
Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen. Wenn wir die Adjektive „weiblich” oder „männlich” benutzen, beziehen wir uns ebenfalls auf die stereotypische gesellschaftliche Verwendung der Begriffe.
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Bildquelle: Pinkstinks Germany e. V.