Wer muss eigentlich vor Homophobie Angst haben?

Begriffe, die mit -phobie aufhören, bezeichnen immer eine Angst. Arachnophobie zum Beispiel ist die Angst vor Spinnen. Was macht ein Mensch, der Angst vor Spinnen hat? Er versucht, den Kontakt zu ihnen zu vermeiden. Vielleicht durchsucht er jeden Tag etwas panisch jedes Zimmer oder verlässt gar nicht das Haus, weil die Angst, aus Versehen Spinnenfäden auf der Haut zu spüren, zu groß ist. Bestenfalls erkennt und akzeptiert dieser Mensch seine übertriebene Angst und versucht zum Beispiel, sich durch eine Therapie von ihr zu befreien.

Und wovor haben dann Menschen Angst, die unter Homophobie „leiden“? Haben Sie panische Angst vor Homosexuellen? Steigen sie kreischend auf Stühle, wenn sie ein schwules Pärchen sehen? Nein, sie verspüren keine Angst, sondern Wut und Abneigung. Merken sie irgendwann selbst, dass ihre Emotionen übertrieben sind und sie sich ändern müssen? Nein, sie sehen sich im Recht und sind der Überzeugung, zu ihrer Heilung müssen Homosexuelle damit aufhören, homosexuell zu sein. Aber sagt jemand mit Arachnophobie zu einer Spinne: „Du musst dich viel, viel unauffälliger verhalten – und brauchst dich nicht zu wundern, dass ich so ausraste. Guck dir mal an, wie übertrieben du Netze spinnst. Und Fliegen essen? Geht’s noch? Weißt du was? Du bist selber schuld an meiner Angst“.

Am letzten Satz wird besonders deutlich: Der Begriff Homophobie hakt. Weil: Die Angst müssen nicht die Menschen mit Abneigung und Wut gegenüber Homosexuellen haben, sondern die Menschen, die homosexuell sind. Sie sind den Vorurteilen, der Abneigung und der Aggression derer ausgesetzt, die Heterosexualität als die einzig richtige Lebensform ansehen. Und weil dem auch bisexuelle, trans und androgyne Menschen ausgesetzt sind, also alle, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen, ist der Begriff „Heterosexismus“ inklusiver. Andere alternative Begriffe sind Homosexualitätsfeindlichkeit oder Transfeindlichkeit. Die Organisation Pinkstinks verwendet ab jetzt den Begriff Heterosexismus, weil sie auch „Homofeindlichkeit“ als zu einengend bewertet.

Wie es in Deutschland um diese Ablehnung bestellt ist, zeigen die Ergebnisse der bevölkerungsrepräsentativen Umfrage, die im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit dem Titel „Einstellungen gegenüber lesbischen, schwulen und bisexuellen Menschen in Deutschland“ erstellt wurde. 

Zuerst die gute Nachricht: Die Tendenz der Menschen, die mehr beziehungsweise gleiche Rechte für Homo- und Bisexuelle wünscht, steigt ebenso wie das Bewusstsein dafür, dass diese Diskriminierungen ausgesetzt sind und die Meinung, dass sie davor geschützt werden sollten. So vergrößerte sich die Zahl derer, die finden, Ehen zwischen zwei Männern oder Frauen sollten erlaubt sein, von 2001 bis 2016 um 23% auf insgesamt 83%.

Aaaaaber: In derselben Studie wurde deutlich: Die Solidarität schwindet, wenn es um Kinder geht. 24% der Befragten sprechen sich z.B. gegen das Adoptionsrecht von schwulen und lesbischen Paaren aus. Und bei der Vorstellung, das eigene Kind wäre lesbisch oder schwul, steigen sogar 41% der Befragten aus.

Außerdem empfinden immer noch ein Fünftel der Befragten Homosexualität als „unnatürlich“ und 11% sind überzeugt, dass Homosexualität eine Krankheit sei, die auch heutzutage noch zu „heilen“ versucht wird. Erst am 7. Mai 2020 verabschiedete der Bundestag den Gesetzentwurf zum Schutz vor Konversionsbehandlungen. Er verbietet medizinische Interventionen, die die sexuelle Orientierung oder die selbstempfundene geschlechtliche Identität einer Person gezielt verändern oder unterdrücken sollen. Bislang gilt das Gesetz allerdings nur bei Konversionsversuchen an Minderjährigen oder einer Therapie unter Zwang  Bei Zuwiderhandlung droht eine Freiheitsstrafe oder ein hohes Bußgeld. Klingt nicht wie ein Gesetz, das im 21. Jahrhundert nötig sein müsste, ist aber so, wie auch die Studie weiter zeigt.

Denn neben den Menschen, die meinen, eine natürliche Veranlagung heilen zu müssen und zu können, gibt es auch noch mehr heterosexistische Aussagen zum Fürchten. Beginnen wir mit der auch im Rassismus und Sexismus häufig anzutreffenden Täter-Opfer-Umkehr: Über die Hälfte der Befragten stimmen der Aussage „Man darf heutzutage nichts Schlechtes mehr über Schwule und Lesben sagen, ohne gleich als intolerant beschimpft zu werden“ zu. Diese Aussage ist so etwas wie die Totalverweigerung, sich mit den eigenen Vorurteilen auseinander zu setzen. Außerdem relativiert und „entschuldigt“ sie die Aggressionen gegenüber homosexueller Menschen durch die Umkehr-Behauptung, die Homosexuellen hätten ja quasi angefangen mit ihren Beschwerden, ihren Forderungen und ihrem Verhalten. Was bei sexuellen Übergriffen der zu kurze Rock ist, kann bei Heterosexismus der Kuss eines gleichgeschlechtlichen Paares sein.

Apropos: Wer eine wunderbare und wirklich lustige Serie über das Coming Out eines jungen Mannes sehen will, sollte „Please Like Me“ gucken. Hier küssen Männer nicht nur, hier haben sie auch tollen Sex.

In der Serie gibt es aber nicht nur Sex, sondern es wird auch gezeigt, was heterosexistische Eltern bei ihren Kindern anrichten können und dass homosexuelle Liebe durch Heterosexismus viel mehr auszuhalten hat, obwohl, und das zeigt diese Serie so besonders großartig, Liebe einfach Liebe ist.

Aber bevor jetzt alle mit Regenbogen-Liebesherzen in den Augen in die vermeintlich tolerante Welt zurück spazieren, müssen wir nochmal über Angst reden, weil Homosexuelle (und Bisexuelle und trans Personen) sie andauernd haben müssen. Sie erleben alltägliche Diskriminierungen, Worte wie „schwul“ oder „Schwuchtel“ werden als Schimpfwort verwendet, sie werden gemieden, verstoßen, sie haben weniger Rechte, es wird versucht, sie wieder „normal“ zu machen, sie werden attackiert oder das Ziel von Anschlägen.

Und auch wenn es sich bei Anschlägen und Attacken auf Homosexuelle um kranke Einzeltäter handelt, so werden sie doch befeuert und gerechtfertigt durch die Diskriminierungen, denen Homosexuelle im Alltag ausgesetzt sind. Deshalb war die Frage in der Überschrift auch schon rhetorisch, bevor der Text überhaupt angefangen hat. Homophobie ist keine Angst, sondern Heterosexismus, und vor dem müssen sich ausschließlich die Homosexuellen fürchten.

Quellen und weiterführende Informationen:
Kindern Angst nehmen – 8 Methoden der Angstbewältigung
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Artikel in Süddeutscher Zeitung: „Ich fühle mich geehrt, eine von diesen Frauen zu sein“
Deutscher Bundestag

Du hast auch eine Frage zu Sexismus, Gender, sexueller Vielfalt?

Stelle sie jetzt und wir schreiben Dir im zweiwöchigen und kostenlosen Pinkstinks-Newsletter, ob wir sie schon beantworten konnten!

Foto Credit: Freepik

Kommentare zu diesem Text könnt ihr uns in unseren sozialen Netzwerken hinterlassen und dort mit insgesamt 110.000 Menschen teilen!