Selbst bei gleichem Brutto-Gehalt bekommen Männer mehr aufs Konto als Frauen. Denn das Steuersystem ist von Männern für Männer geschaffen – und das geht auf Kosten der Frauen.

Werden Frauen im Steuersystem benachteiligt?

Selbst bei gleichem Brutto-Gehalt bekommen Männer mehr aufs Konto als Frauen. Denn das Steuersystem ist von Männern für Männer geschaffen – und das geht auf Kosten der Frauen.

Die feministische Ökonomin Dr. Christine Rudolf erklärt, wie die Benachteiligung von weiblich gelesenen Menschen im deutschen Steuersystem zustande kommt. Hauptsächlich gibt es dafür nämlich zwei ineinandergreifende Gründe: ungerechte Lohn- und Einkommensteuer sowie das Ehegattensplitting. 

„Der größte Bereich, in dem Frauen direkt im deutschen Steuersystem benachteiligt werden, ist die Lohn- und Einkommensteuer“, sagt Dr. Rudolf. Die ist progressiv gestaffelt und das bedeutet: Je mehr jemand verdient, desto mehr Steuern muss er*sie prozentual zahlen. „Bevor überhaupt Lohnsteuer erhoben wird, werden Menschen in Steuerklassen eingeteilt“, erklärt die Expertin. Die Lohnsteuer wird direkt von der*dem Arbeitgeber*in ans Finanzamt überwiesen. Im deutschen Steuersystem gibt es sechs Lohnsteuerklassen mit unterschiedlich hohen Steuersätzen. 

Wenn ein Paar verheiratet oder verpartnert ist, dann werden die Steuerklassen angepasst. Die Person, die mehr verdient, kann dann in Steuerklasse 3, zahlt weniger Steuern und hat dadurch mehr netto, also bekommt am Ende mehr raus. Die Person, die weniger verdient, geht dann in die ungünstigere Steuerklasse 5. Dadurch zahlt sie einen höheren Steuersatz und hat weniger netto. Insgesamt als Haushalt haben sie dann aber mehr Geld zur Verfügung. Prima, oder? 

Tja, nicht ganz. Unter anderem dank Gender Pay Gap – das ist der Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen, der in Deutschland derzeit bei 18 Prozent liegt – sind diejenigen mit weniger Gehalt meistens Frauen. Und die gehen deshalb in die ungünstigere Steuerklasse. „Was bedeutet, dass sie jeden Monat anteilig mehr von ihrem sowieso geringerem Einkommen an Steuern bezahlen“, erläutert Christine Rudolf. Frauen haben also im Vergleich zu Männern doppelt weniger Geld zur Verfügung. 

Dann ist da noch das Ehegattensplitting. Dabei werden verpartnerte oder verheiratete Paare wie ein*e einzige*r Steuerzahler*in behandelt. Sie machen also eine gemeinsame Steuererklärung. Dadurch sparen sie Steuern. Und zwar so: Das Finanzamt nimmt das gesamte Brutto-Jahreseinkommen von beiden. Dann teilt es dieses gemeinsame Einkommen durch zwei. Nur auf diese eine Hälfte werden Steuern berechnet. Dieser Steuerbetrag wird dann verdoppelt. Und das ist die fällige Einkommensteuer. Durch die unterschiedlich hohen Prozentsätze in den Steuerklassen zahlt ein Paar so in der Regel zusammen weniger Steuern als einzeln. Allerdings ist dieser Steuervorteil größer, je weniger eine Person von beiden verdient.

Diese Ungerechtigkeiten ziehen einen ganzen Rattenschwanz an Problemen und Nachteilen für Frauen hinter sich her. 

Zum Beispiel zahlt die Person in Steuerklasse 5 relativ hohe Sozialversicherungsbeiträge – die werden nämlich nach dem Brutto-Gehalt berechnet –, bekommt dann aber an anderer Stelle wenig raus. Zwar orientiert sich das Arbeitslosengeld am Brutto-Gehalt, aber Kurzarbeitergeld zum Beispiel berechnet sich nach dem Netto-Gehalt. Also danach, was übrig bleibt, wenn die Steuern bezahlt wurden. Und das kann in Klasse 5 richtig wehtun, nicht nur in Zeiten einer Pandemie. 

Außerdem sorgt es dafür, dass verpartnerte oder verheiratete Frauen öfter in Teilzeit oder gar nicht arbeiten. Christine Rudolf: „Leider sind es oft die Frauen in einer Ehe oder Partnerschaft, die wegen Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen keiner bezahlten Arbeit nachgehen. Wenn diese Frauen dann wieder in das Berufsleben einsteigen wollen, dann ‚lohnt‘ es sich tatsächlich in der Regel gar nicht.“ Dadurch schmälert sich allerdings auch ihre spätere Rente. 

Aber nicht nur, dass Frauen so im Steuersystem benachteiligt und vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden – Männer haben konkrete Vorteile. Hier kommt die ungerechte Vermögensverteilung ins Spiel. 

Am meisten Steuern nimmt der Staat über die Lohn- und Einkommensteuer ein – also von Menschen, die arbeiten. Gewinne und Vermögen werden hingegen im Vergleich weniger hoch besteuert. Das heißt: Wer Geld übrig hat, kann es anlegen, bekommt dann Zinsen und zahlt auf dieses Geld im Verhältnis weniger Steuern als jemand, der die gleiche Summe durch Arbeit erwirtschaftet. 

Doch da ist noch mehr. „Es gibt auch viele Absetzungsmöglichkeiten in der Lohn- und Einkommensteuer, die Bessererdienende nutzen können, um ihre Steuerlast zu mindern, die Menschen mit weniger Einkommen gar nicht haben“, so die Ökonomin. Männer machen beispielsweise viel häufiger Werbungskosten geltend als Frauen. 

Und wer verdient und besitzt in dieser Gesellschaft mehr Geld? Richtig: Männer. Vermögen und Einkommen sind zwischen Frauen und Männern ungleich verteilt“, sagt auch Dr. Rudolf, „Frauen verdienen in Deutschland 380 Milliarden Euro im Jahr weniger als Männer, weil sie viele Stunden mehr unbezahlt arbeiten.“ Frauen bekommen weniger Gehalt UND besitzen weniger Vermögen: „Deshalb zahlen sie gemessen an ihrem Einkommen mehr Steuern als Männer, die von ihrem Einkommen mehr steuersparend einsetzen können.“ 

Moment. Da ist immer noch mehr. „Auch die Mehrwertsteuer, die wir auf alle Produkte und Dienstleistungen bezahlen, trifft gemessen an den Einkommen Frauen stärker als Männer. Wer arm ist, muss sein ganzes Geld ausgeben, um Essen, Kleider und andere Dinge des täglichen Lebens einzukaufen“, sagt Dr. Rudolf. „Wer reich ist, kann Geld sparen, darauf muss er oder sie dann keine Mehrwertsteuer bezahlen. Das bedeutet – da Frauen der ärmere Teil unsere Gesellschaft sind- zahlen sie gemessen an ihrem Einkommen auch hier mehr als Männer.“

Keine Frage, das Steuersystem benachteiligt Frauen auf verschiedene Arten. Aber warum ändert sich daran nichts? Die kurze Antwort: Es ist nicht gewollt. 

„Ein Staat ist darauf angewiesen, dass Menschen sich unbezahlt um ihre Familien kümmern und Steuern bezahlen. Frauen kümmern sich mehr um ihre Familienangehörige und den Haushalt und zahlen gemessen an ihrem Einkommen mehr Steuern als Männer“, sagt die Ökonomin. „Sie werden also dafür bestraft, dass sie sich um andere kümmern und dadurch weniger verdienen, das ist zutiefst ungerecht.“

Das ist aber keineswegs von der Natur so vorgegeben, sondern anerzogen, wie Christine Rudolf sagt: „Diese Arbeitsteilung ist keine ‚freie‘ Wahl, sondern von einer durch Geschlechterstereotypen geprägten Gesellschaft aufgezwungen und politisch gewollt.“ An den Gründen dafür hat sich seit Beginn der Industrialisierung im späteren 18. Jahrhundert nicht viel geändert. Frauen sollen im Patriarchat kontrolliert werden. „Es geht um Geld und um Macht“, erläutert die Ökonomin. Und um Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.

So lange in den Köpfen der politischen Entscheider*innen das Bild spuke, Frauen seien für Familie zuständig, werde sich an ihrer Einkommenssituation, ihrer Besteuerung und ihrer ungerechten finanziellen Schlechterstellung laut Dr. Rudolf nichts ändern: „Es ist die Kombination von Rollenklischees, Gehaltsunterschieden zwischen Frauen und Männern sowie die Steuergesetzgebung, die Frauen in Ehe und Partnerschaft massiv benachteiligen.“

Dabei gäbe es durchaus Lösungen. Die Abschaffung des Ehegattensplittings zum Beispiel. Es gibt seit 30 Jahren immer wieder Bestrebungen dazu, bislang vergeblich. Christine Rudolf schlägt vor, jede Person für sich alleine zu besteuern. So würden Frauen direkt profitieren und nicht als Teil eines Haushalts. Und sie würden auch nicht durch hohe Steuern dazu veranlasst, nur etwas dazuzuverdienen oder ganz zu Hause zu bleiben. 

Außerdem sei es sinnvoll, dass Mädchen und Frauen mehr über Geld lernen. Dr. Rudolf nennt das „ökonomische Alltagskompetenz“ und erklärt: „Für wichtige Entscheidungen im Leben, wie die Berufswahl oder die Frage, Vollzeit oder Teilzeit zu arbeiten, sind die finanziellen Folgen ein Leben lang von Bedeutung. Es geht nicht nur darum zu rechnen, was habe ich jetzt an Geld zu Verfügung, kann ich davon meine Miete bezahlen oder etwas für größere Anschaffungen oder Wünsche zur Seite legen, sondern auch darum, wovon lebe ich, wenn ich später in Rente gehe.“ Dieses Wissen beziehe sich nicht nur aufs Gehalt, sondern auch auf Themen wie Steuern, Versicherungen, sparen und anlegen. 

„Niemand sollte den Überblick über den eigenen Geldbeutel – was hinein fließt, was davon bezahlt werden muss und warum – aus der Hand geben“, sagt Dr. Christine Rudolf. „Dann kann ich für meine Rechte eintreten, für mich richtige Entscheidungen treffen und mich für die Parteien in den Parlamenten entscheiden, die meine Interessen wirklich vertreten. Politik bestimmt jeden Tag über meinen Geldbeutel. „Die Annahme, dass Frauen “von Natur aus” nichts mit Finanzen am Hut haben, ist nämlich genauso falsch wie die Vorstellung, dass Mädchen nur Rosa mögen. Und ebenso wie viele andere diskriminierende Systeme wird auch das Steuersystem einfach als gegeben hingenommen – und erst bei genauerem Hinsehen als das entlarvt, was es ist: eine gezielte Benachteiligung von Frauen. Daher ist es wichtig, dass die Politik hier endlich nachbessert.

Anmerkung: Uns ist bewusst, dass der Text nur eine cis-Perspektive darstellt. Hier geht es um „Männer“ und „Frauen“, obwohl das längst nicht alle Menschen umfasst – es gibt mehr als nur diese beiden Geschlechter. Wir setzen uns hier mit gesellschaftlichen Konstruktionen auseinander, die noch immer auf „männlich“ oder „weiblich“ basieren und wollen diese hinterfragen.

Bildquelle: Unsplash

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