Was bezeichnet eigentlich das Wort Vulva?

Wieso heißt Scheide eigentlich jetzt Vulva?

Weißt Du, was mit „Vulva“ gemeint ist? Und wo die Vulva genau ist? Wenn ja, gehörst Du zu einer Minderheit: Knapp die Hälfte der Frauen wissen, wo die Vulva ist. Wenn nein, ist das nicht Deine Schuld – aber indem Du diesen Text liest, tust Du etwas gegen diese Wissenslücke.

Bevor wir aber dazu kommen, woher dieses Unwissen stammt, das Wichtigste zuerst: Die Vulva ist das, was die meisten fälschlicherweise als „Scheide“ oder „Vagina“ bezeichnen. Vulva umfasst das, was vom weiblichen Geschlechtsorgan zu sehen ist: die Vulvalippen, der äußere Teil der Klitoris und der Venushügel. Die Vagina dagegen ist nur der innere Teil, die Verbindung zwischen Vulva und Gebärmutter: bis zu zwölf Zentimeter lang, aus Schleimhaut bestehend, von Muskeln umgeben.

Die Vulva ist anatomisch gesehen überaus komplex: Allein in der Spitze der Klitoris, die in die Vulva ragt, laufen etwa 8000 sensorische Nervenendigungen zusammen. Das hat zur Folge, dass die Klitoris viel empfindsamer ist als der Penis – denn die Dichte dieser Rezeptoren ist fünfzigmal höher als beim männlichen Geschlechtsorgan. Die Klitoris ist viel größer als nur die kleine Erhebung, die in der Vulva zu sehen ist. Sie verläuft mit ihren Schwellkörpern bis tief in den Unterleib hinein. Sie kann also sowohl von außen als Teil der Vulva als auch von innen – über die Vagina – stimuliert werden.

Wenn Frauen erregt sind, schwillt die Klitoris an, wird steif, auch die Vulvalippen werden größer, verändern ihre Farbe. Die Vulva macht also weibliche Lust sichtbar. Und wird damit zum Politikum: Sie zeigt etwas, das nicht sichtbar sein darf. Oder durfte. Während man sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch ausführlich und bis ins Detail mit der hochinteressanten Anatomie des weiblichen Geschlechtsorgans beschäftigt hat, arbeiten heutige Standardwerke der Ärzt*innen- und der Lehrer*innen-Ausbildung mit im Vergleich dazu verkümmerten Darstellungen. Der Bruch kam Ende des 19. Jahrhunderts, als man anfing, das weibliche Genital zu tabuisieren. Frauen wurde die Sexualität abgesprochen, Frauen sollten für Haus und Familie zuständig sein und hatten auf keinen Fall Lust zu empfinden. Sex ja, aber nur, um den Mann zu befriedigen. Was die Gesellschaft vorgab, setzte sich auch bald in der Wissenschaft durch. Wissen, Forschungsergebnisse und wissenschaftliches Interesse gingen so verloren. Natürlich hat die Wissenschaft seitdem wieder einiges aufgeholt – so gab es 2018 die weltweit größte wissenschaftliche Vulva-Studie in Luzern. Ein Ärzt*innen-Team unter der Leitung von Gynäkologe Andreas Günther hat 657 Vulven von Frauen zwischen 15 und 84 vermessen. Das wichtigste Ergebnis: Es gibt keine „normale“ Vulva. Das Charakteristische für Vulven ist, dass sie unterschiedlich sind. Jede Vulva ist einzigartig! Doch auch wenn die Forschung sich mittlerweile wieder mit dem weiblichen Genital beschäftigt, es liegt noch viel im Argen: Ärzt*innen, die im Gespräch mit den Patient*innen die falschen Bezeichnungen verwenden, Sexualkundelehrer*innen, die mit überholten Abbildungen arbeiten und denen das Wort „Vulva“ nicht über die Lippen kommt. Dazu: Elternhäuser, in denen nur über Sex im „bloß nicht schwanger werden!“-Zusammenhang geredet wurde. Ist es da ein Wunder, dass so viele erwachsene Frauen nicht wissen, was mit „Vulva“ gemeint ist?

Hinzu kommt, dass das Wort Scheide so furchtbar gut zu dem passt, was man lange Zeit mit der weiblichen Sexualität verband: eine Scheide, die dazu da ist, dass etwas hineingesteckt wird. Nur eben nicht ein Messer wie bei einer Messerscheide oder ein Schwert wie bei einer Schwertscheide, sondern eben der Penis. Passiv, ohne eigene Motivation, nur für den Penis geschaffen – das ist also die weibliche Scheide. Das Wort „Vagina“ sagt übrigens dasselbe aus: Es stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „Scheide des Schwertes, Hülse“. Diejenigen, die das Wort „Scheide“ noch immer für alles verwenden, was vom weiblichen Geschlechtsorgan zu sehen ist, wissen in der Regel nicht, dass die Bezeichnung schlicht falsch ist. Und woher das Wort kommt, warum es sich wie „Schwertscheide“ anhört, vermutlich ebenfalls nicht. Wie auch? Die weibliche Lust und die weiblichen Genitalien sind noch immer ein Thema, über das nicht offen gesprochen wird in unserer Gesellschaft. Scham, das ist es, was über so viele Jahre mit dem weiblichen Genital verbunden wurde und oft noch wird. Und so sind noch immer Wörter wie „Schamhaar“ und „Schamlippen“ im Umlauf. Überholte Wörter, überholte Vorstellungen. Besser dagegen: Intimhaar und Vulvalippen. Es gibt sogar eine Wortschöpfung, die das Wort „Vagina“ ersetzt: Vulvina. Erschaffen wurde es von der Feministin Ella Berlin, die so den diskriminierenden Aspekt des Wortes „Vagina“ abschaffen will.

Die „Viva la Vulva!“-Bewegung ist auf dem Vormarsch. Frauen, die über Vulven reden, die Törtchen in Vulva-Form backen, die vulven-förmige Ohrringe, Broschen oder Kettenanhänger herstellen. Sie feiern die Vulva, weil Vulven einerseits für das Urweibliche stehen, für weibliche Lust. Und andererseits schaffen sie so ein Klima, in dem die Vulva irgendwann einfach zum Alltag dazugehören kann. Wenn in einer näheren Zukunft Vulvakritzeleien an der Häuserwand genauso normal sind wie Peniskritzeleien, sind wir weit gekommen. (Auch wenn Kritzeleien an sich natürlich nicht jedermenschs Sache sind.) Bis es so weit ist, müssen aber noch viele Vulva-Törtchen gebacken und sehr, sehr vielen Menschen die Vulva nähergebracht werden – mit Sexualerziehung, die nicht sexistisch ist, Spaß macht und die Dinge beim Namen nennt, mit Ärzt*innen, die wissen, wovon sie reden, und Wissenschaftler*innen, die das so lange vernachlässigte weibliche Genital weiter erforschen.

Anmerkung: Uns ist bewusst, dass der Text nur eine cis-Perspektive darstellt. Hier geht es um „Männer“ und „Frauen“, obwohl das längst nicht alle Menschen umfasst – es gibt mehr als nur diese beiden Geschlechter. Wir setzen uns hier mit gesellschaftlichen Konstruktionen auseinander, die noch immer auf „männlich“ oder „weiblich“ basieren und wollen diese hinterfragen.

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Bild: Unsplash

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