Ich bin kein großer Fan von Scham- und Peinlichkeitsgefühlen, aber ich finde, dass wir uns alle ein bisschen mehr schämen müssten. Dieser widersprüchliche Satz beschreibt einen Eindruck, der mich in letzter Zeit immer häufiger beschleicht. Scham, insbesondere die aktive Beschämung von Menschen, ist etwas, das weder besonders gut in meine persönlichen Erfahrungen noch in feministische Konzepte passt. Denn es hat sehr lange Tradition, insbesondere Frauen durch das Beschämen ihres Körpers, ihrer Sexualität und ihrer Entscheidungen auf die Plätze in den hinteren Reihen zu verweisen, die man(n) ihnen zugedacht hat.
In diesem Zusammenhang werden Frauen in weiser patriarchaler Voraussicht durch Beschämung regelrecht zugerichtet. Frauen scheinen stets die ersten Adressatinnen von Moralansprüchen zu sein.
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Und zwar mit dem Ziel, dass sie nicht gewinnen können. Damit ihnen keine Option außer der einen verbleibt, genau das zu tun, was von ihnen erwartet wird.
Selbst dann bleiben sie Das andere Geschlecht.
Sich bewusst nicht zu schämen, kann jedoch ein ebenso wirksames Mittel sein, um die Macht nicht aus den Händen geben zu müssen. Diese Erfahrung machen wir mit Pinkstinks jeden Tag. Der sexistische Status Quo wird verteidigt, indem strukturelle Probleme negiert oder bagatellisiert werden. Stimmt gar nicht, habt euch mal nicht so, eure Probleme möchte ich haben. Stellt man solche Beruhigt euch gefälligst! Aufforderungen neben bestimmte gesellschaftliche Verwerfungen, wird diese Strategie besonders deutlich.
Dass wir es wagen, das Wort "Familie" noch in den Mund zu nehmen, während wir #Beleghebammen abschaffen und Alleinerziehende hängen lassen.
— Pinkstinks.de (@pinkstinksde) March 15, 2017
Dinge, die einem richtig peinlich sein müssten, und Sachen, für die man sich heftig fremdschämen sollte, werden so auf Kinkerlitzenformat geschrumpft. Es ist aber keine Kleinigkeit, dass Frauen mehr als doppelt so viel unbezahlte Arbeit leisten wie Männer. Es ist eine unsägliche Peinlichkeit. Aber halt, nein: Schon wird gefragt, ob ich denn wirklich ewig missmutig sein will. Uns Deutschen geht es doch gut. Kann ich mich da nicht endlich mal drüber freuen und aufhören so uncool schlechte Laune zu schieben.
Ähm, nee. Ich finde das peinlich. Ich finde es peinlich, wenn aus dem Armuts- und Reichtumsbericht die Tatsache herausgestrichen wird, dass mit Reichtum auch die Möglichkeit auf mehr politische Einflussnahme einhergeht.
Die Streichungen im #Armutsbericht machen transparent, was vertuscht werden sollte, meint Christoph Butterwegge https://t.co/jXTZsTedmp pic.twitter.com/whOw08i2Oq
— Deutschlandfunk Kultur (@dlfkultur) April 12, 2017
Ich finde es zum Femdschämen, wenn sich Wolfgang Schäuble und Angela Merkel gefühlig mit der Ehe für Alle schwer tun. Und ich könnte kotzen, wenn der Generalsekretär der CDU Baden-Württemberg zwar gegen die Ehe für Alle ist, aber den Homosexuellen für die nächste Legislaturperiode großzügig steuerliche Gleichstellung verspricht… und dabei mal eben unterschlägt, dass das Bundesverfassungsgericht seine Partei schon 2013 dazu genötigt hat, genau diesen Schritt zu vollziehen. Bisschen verbale Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhaltensstarre zeigen. Privilegien absichern und sich dafür auf gar keinen Fall schämen. Ist ja auch nichts dabei. Gregor Gysi hat das Problem an dieser Haltung vor einer Weile mal einem sehr besorgten Bürger ziemlich pointiert erklärt: Wir blicken neidvoll zur Seite und treten nach unten, anstatt uns wirklich um Gerechtigkeit zu bemühen.
Fazit: Beschämen ist so ziemlich das Letzte und wir müssten uns alle mehr schämen. Wir sollten gerechterweise darauf verzichten, anderen Schamgefühle einzureden, und wir sollten uns viel mehr dafür schämen, Ungerechtigkeiten zuzulassen oder gar von ihnen zu profitieren. Bis auf weiteres kann ich diese Widersprüchlichkeit nicht auflösen, sondern nur aushalten und umsetzen. Klingt anstrengend. Lohnt sich aber.