Wo geht’s lang, Heidi Klum?

Irgendetwas an diesem Menschen muss doch nett sein. Eine, die so viel Spaß ausstrahlen und Millionen junger Mädchen begeistern kann, an der können doch Studien über die gesundheitsgefährdenden und gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Sendung nicht spurlos vorüber gehen. Das renommierte internationale Zentrum für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) in München legte 2015 dar, wie gefährlich das in GNTM präsentierte Frauenrollen- und Körperbild für junge Mädchen ist. 2018 legte das IZI nach: Eine Untersuchung von Instagram und YouTube-Accounts zeigte, dass das mediale Frauenrollenbild in den 1950er Jahren steckengeblieben ist: devot, lieblich und unpolitisch. Ebenso inszeniert Frau Klum jedes Jahr ihre „Meeedchen“, die zu jedem unmöglichen Ansinnen meist männlicher Fotografen Ja und Amen sagen müssen, um weiterzukommen.

Irgendwo in Heidi Klums Wesen muss es doch an ihr nagen: Auch wenn sie es geschafft hat, nicht magersüchtig zu werden, Millionen zu verdienen und als alleinerziehende Mutter einen „Traumjob“ zu haben, wie sie auf Twitter immer wieder schreibt, weiß sie doch, was rechts und links in ihrer Branche ab geht. Gegen die harten und abwertenden Arbeitskonditionen auf dem Modelmarkt gehen inzwischen mehrere von Models gegründete Gewerkschaften an. Sie hat #MeToo in L.A. mitbekommen (und sich nie dazu geäußert), sie ist ein ewig gut gelauntes Marketingwunder, dass sich durch die politischen Wogen hindurchtanzt um everybody’s darling zu bleiben. Für sie geht die Rechnung hervorragend auf. Auch der zweite Musikermann wird in ihrer Show vermarktet – war es früher die Musik und Attraktion von Seal, wird Tokio Hotels sehr durchschnittlicher neuer Song jetzt extra für Staffel 14 gelauncht. Ihre unglaubliche Stärke ist ihre unangreifbare Fröhlichkeit, mit der sie sich in jede medial vermarktete Beziehung schmeißt und nach jedem stark kritisierten GNTM-Finale einfach weiter macht. Dazu gehört eine große Portion Mut und Optimismus – und eine „wer wagt, gewinnt eben““- Attitüde, die das herrschende kapitalistische System bestätigt.

In diesem herrschenden System muss sich Heidi Klum aber spätestens in ein, zwei Jahren neu erfinden. Schon jetzt vermutet man kleine Botox-Nachhilfen an ihrer Oberlippe und „Hans und Franz“ werden nicht ewig in wenig Stoff gekleidet die Sehgewohnheiten ihrer Community begeistern. Sie wird entweder ihr Image verändern müssen oder aber die Sehgewohnheiten ihrer Fans. Eine Möglichkeit: Sie könnte eine liebevolle Eveline Hall werden, wie es Austria‘s Next Topmodel vormachte, bis die Sendung eingestellt wurde.

Doch auch, wenn Hall eine authentischere Modelmutti gab als Heidi und Mode wenigstens beiden Geschlechtern anpries, änderte das nichts an einem überzogenen Schönheitsbild. Auch ATM produzierte für eine aktuelle Werbebranche und einen Modemarkt, in denen Frauen über 176 cm mit knappen 50 kg Ikonen sind und somit eine Mädchengeneration unter Stress setzt. Auch zeigte die laue Einschaltquote von ATM, dass dieses Konzept nicht so zieht wie mit einer sexy Ikone an der Spitze, die in ihrer dauerhaften Jugendlichkeit die Produkte von Maybelline oder Gillette Venus gleich mitverkaufen kann. Ein weiteres Problem: Hall war lange weg vom Model-Fenster, bis sie als grauhaarige Grand Dame wieder auftrat. Wie geht der Übergang als Wechseljahrs-Mid-something?

Die zweite Option wäre die Revolution gegen den jugendlichen Perfektionswahn der Modebranche. Wie Vivienne Westwood

oder Cindy Gallop könnte Heidi eine alternde, sexy Ikone bleiben, die Jugendkonservierung á la Madonna verzichtet und sich dadurch ermächtigt, dass sie auch die Kids aufruft, ihre Körper zu zeigen, wie sie sind. H&M und Monki mit ihrem neuen Fokus auf Diversität wären als Werbepartnerinnen sicher zu holen. Vielleicht würde auch Gilette Venus den Trend von Gillette Men mitgehen und Geschlechterrollenbilder herausfordern. Aber die hohe Modebranche? Ob Joop seine Wunderkind-Roben noch hergeben würde, wenn sie in Größe 42 angefordert werden? Ob Rankin wirklich Bilder schießen möchte, auf denen keine elfenhaften Grazien zu sehen sind? Heidis Problem ist ihre Macker-Generation, die sich nicht vorstellen kann, dass Werbung anders funktioniert als wie von mittelalten weißen Männern über Jahrzehnte gemacht. Wen könnten Models, die nicht devot und mager sind, interessieren? Wie kann man Mädchen für Mode begeistern, wenn sie keine überzogenen Ikonen präsentiert bekommen? Das neue Modell der Vermarktung gibt es noch nicht. Ob Heidi es erfinden kann?

H&M bewegt sich seit Sommer 2018 aus seinen roten Zahlen heraus. Der Erfolg scheint ein neues Konzept zu sein: Das Unternehmen hat angekündigt, bis 2030 komplett nachhaltig aufgestellt zu sein und soziale Verantwortung zu tragen. Dieser Clip war  eine der beliebtesten Modewerbungen 2018.

Man kann nur hoffen, dass der Markt sich bewegt, alte Herren merken müssen, dass die Nachfrage sich verändert und immer mehr junge Mädchen die Augen rollen, wenn Heidi ihnen erzählen will, was sie zu tun haben. Die coole große Schwester ist sie längst nicht mehr, bald ist sie älter als ihre eigenen Mütter. Lena Gercke fehlt der Charme und Witz und Stefanie Giesinger und Sara Nuru sind trotz Influencer-Erfolg zu sehr an Diversität, Feminismus und Selbstfürsorge interessiert, um in ihre exakten Fußstapfen zu treten. Genau deshalb könnten sie bald übernehmen – und hoffentlich vieles anders machen.