Eigentlich fing das Interview mit der Berner Nationalrätin Andrea Geissbühler ganz nachvollziehbar an. Gegenüber einem Fernsehsender äußerte sie die Auffassung, dass Vergewaltiger nicht mit Bewährungsstrafen davon kommen sollten. Allerdings gäbe es da auch Ausnahmen:
Naive Frauen, die fremde Männer nach dem Ausgang mit nach Hause nehmen und dann ein bisschen mitmachen, aber dann plötzlich dennoch nicht wollen, tragen ja auch ein wenig eine Mitschuld.
So ist das also?! Die Opfer sind irgendwie auch Schuld. Wer fremde Männer mit nach Hause nimmt, der muss sich später über seine Vergewaltigung nicht wundern. Wer „ein bisschen mitmacht“, der hat sein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verwirkt. Das ist nicht weniger als eine Blaupause für die sexistische Legitimation von sexualisierter Gewalt. Frauen verhalten sich falsch/aufreizend/herausfordernd/sind halt einfach da und ziehen damit Gewalt auf sich, die sie verdient haben und mit der sie hätten rechnen müssen.
Die Genderforscherin Franziska Schutzbach konnte und wollte das so nicht stehen lassen und initiierte einen #SchweizerAufschrei.
Langsam Zeit für einen #SchweizerAufschrei: der Typ, der mich als 14-jährige im Wald verfolgte und mir an die Brüste griff. @aktivistinCH
— Franziska Schutzbach (@f_schutzbach) October 12, 2016
Im Anschluss daran wiederholte sich Geschichte. Wie zum #aufschrei 2013 berichteten mehr und mehr Menschen auf Twitter von ihren Erfahrungen mit Alltagssexismus, Übergiffigkeit und sexualisierter Gewalt.
Der Wirt, der den Gast in Schutz nahm, der mich beim Servieren begrapschte: Dafür gibt er immer Trinkgeld #schweizerAufschrei
— Lovey Wymann (@Knotenbleistift) October 13, 2016
Der Typ, der mir an den Po fasste und nach der Ohrfeige fand, er habe ja gar nichts getan, was ich mir erlaube. #schweizerAufschrei
— Kratze 🌍 (@KratzeZH) October 13, 2016
Nach bestandener Doktoratsprüfung hören, man hätte dem Professor wohl schöne Augen gemacht #schweizeraufschrei
— Sandra (@cosima73) October 13, 2016
#SchweizerAufschrei: Die Männergruppe, die einer Kollegin nachpfeift, und bei Nichtreagieren rufen: Eingebildete Tussi!
Stop #rapeculture— Pascal Pajic (@PascalPajic) October 13, 2016
Der Typ der meiner Freundin an die Brüste grapschte, weil er schließlich auch die Drinks zahlte #SchweizerAufschrei
— katha baur (@mouffen_sausen) October 12, 2016
Auch Politikerinnen schlossen sich dem Protest an. Die Berner Sozialdemokratin Min Li Marti formulierte, was sich viele Frauen tagtäglich in der Politik anhören müssen.
Wenn dir der Ratskollege sagt, das Thema sei halt kompliziert, vielleicht könne mir das mein Mann später erklären. #SchweizerAufschrei
— Min Li Marti (@minlimarti) October 13, 2016
Inzwischen griffen Medien das Thema auf – und Geissbühler erhielt die Gelegenheit, sich zu den Entwicklungen zu verhalten. Viele Leute hätten ihren Satz in den falschen Hals bekommen, meinte Geissbühler. Es gäbe keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen. Außerdem „präzisierte“ sie ihre Aussage… und vertiefte den gleichen, auf Victim Blaming basierenden Denkfehler.
Täter bleibt Täter, und nein heisst nein. Aber Frauen müssen sich bewusst sein, was es bedeutet, wenn sie einen fremden Mann nach dem Ausgang mit nach Hause nehmen und was sie damit kommunizieren – und dass davon auch eine Gefahr ausgehen kann.
Anschließend markierte sie den „Fall, dass eine Frau in ein Auto gezerrt und vergewaltigt wird“, als typisch – von dem sie ja nicht gesprochen hätte. Die Verzerrung der Tatsache, dass sexualisierte Gewalt hauptsächlich im sozialen Nahbereich stattfindet und die Täter den Opfern bekannt sind, hätte es zur Disqualifikation dieser neuerlichen Aussagen gar nicht mehr gebraucht. Schon das „Aber“ war zu viel.
Kein Aber. Keine Ausnahmen. Keine Opferbeschuldigungen. Niemals.
Bleibt zu hoffen, dass der #SchweizerAufschrei ähnlich wie der #aufschrei nachhaltig Sichtbarmachung und Synergien erzeugen kann. Damit Aktivist*innen nach dieser Welle noch besser voneinander wissen, sich vernetzen und Projekte und Proteste anstoßen. Die Chancen stehen nicht schlecht. Denn sie haben längst damit begonnen.