Zeit für einen Schweizer Aufschrei

Eigentlich fing das Interview mit der Berner Nationalrätin Andrea Geissbühler ganz nachvollziehbar an. Gegenüber einem Fernsehsender äußerte sie die Auffassung, dass Vergewaltiger nicht mit Bewährungsstrafen davon kommen sollten. Allerdings gäbe es da auch Ausnahmen:

Naive Frauen, die fremde Männer nach dem Ausgang mit nach Hause nehmen und dann ein bisschen mitmachen, aber dann plötzlich dennoch nicht wollen, tragen ja auch ein wenig eine Mitschuld.

So ist das also?! Die Opfer sind irgendwie auch Schuld. Wer fremde Männer mit nach Hause nimmt, der muss sich später über seine Vergewaltigung nicht wundern. Wer „ein bisschen mitmacht“, der hat sein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verwirkt. Das ist nicht weniger als eine Blaupause für die sexistische Legitimation von sexualisierter Gewalt. Frauen verhalten sich falsch/aufreizend/herausfordernd/sind halt einfach da und ziehen damit Gewalt auf sich, die sie verdient haben und mit der sie hätten rechnen müssen.

Die Genderforscherin Franziska Schutzbach konnte und wollte das so nicht stehen lassen und initiierte einen #SchweizerAufschrei.

Im Anschluss daran wiederholte sich Geschichte. Wie zum #aufschrei 2013 berichteten mehr und mehr Menschen auf Twitter von ihren Erfahrungen mit Alltagssexismus, Übergiffigkeit und sexualisierter Gewalt.

Auch Politikerinnen schlossen sich dem Protest an. Die Berner Sozialdemokratin Min Li Marti formulierte, was sich viele Frauen tagtäglich in der Politik anhören müssen.

Inzwischen griffen Medien das Thema auf – und Geissbühler erhielt die Gelegenheit, sich zu den Entwicklungen zu verhalten. Viele Leute hätten ihren Satz in den falschen Hals bekommen, meinte Geissbühler. Es gäbe keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen. Außerdem „präzisierte“ sie ihre Aussage… und vertiefte den gleichen, auf Victim Blaming basierenden Denkfehler.

Täter bleibt Täter, und nein heisst nein. Aber Frauen müssen sich bewusst sein, was es bedeutet, wenn sie einen fremden Mann nach dem Ausgang mit nach Hause nehmen und was sie damit kommunizieren – und dass davon auch eine Gefahr ausgehen kann.

Anschließend markierte sie den „Fall, dass eine Frau in ein Auto gezerrt und vergewaltigt wird“, als typisch – von dem sie ja nicht gesprochen hätte. Die Verzerrung der Tatsache, dass sexualisierte Gewalt hauptsächlich im sozialen Nahbereich stattfindet und die Täter den Opfern bekannt sind, hätte es zur Disqualifikation dieser neuerlichen Aussagen gar nicht mehr gebraucht. Schon das „Aber“ war zu viel.

Kein Aber. Keine Ausnahmen. Keine Opferbeschuldigungen. Niemals.

Bleibt zu hoffen, dass der #SchweizerAufschrei ähnlich wie der #aufschrei nachhaltig Sichtbarmachung und Synergien  erzeugen kann. Damit Aktivist*innen nach dieser Welle noch besser voneinander wissen, sich vernetzen und Projekte und Proteste anstoßen. Die Chancen stehen nicht schlecht. Denn sie haben längst damit begonnen.