ADHS - das haben doch nur Jungs?!

ADHS – Das haben doch nur Jungs?!

Ein Text von Angelina Boerger

Das Wissen über ADHS, egal ob im Kindes-, Jugend- oder Erwachsenenalter, ist noch lange nicht ausreichend vermittelt. Und wie so oft wirkt sich diese Wissenslücke besonders negativ auf das Leben von Mädchen, Frauen und weiblich sozialisierten Menschen aus.

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ADHS-Diagnosen bei Mädchen

Mädchen werden immer noch viel seltener und später mit ADHS diagnostiziert als Jungen. Aktuell ist die ADHS-Diagnose bei Jungen noch dreimal so hoch wie bei Mädchen! Und das, obwohl ADHS kein Geschlecht kennt. Trotzdem fallen die meisten weiblich gelesenen Personen durchs Raster, denn ADHS kann sich ganz unterschiedlich äußern. Das hat sowohl umweltbedingte, aber auch hormonelle, also biologische Ursachen. Leider schauen wir auch heute noch durch eine eher männlich sozialisierte Brille, wenn wir das Thema betrachten. Unser Blickwinkel ist dabei vorwiegend weiß und jung. 

Stellt man sich ein Klassenzimmer vor, in dem 30 Kinder sitzen und versuchen, dem Unterricht zu folgen – wer wird der Lehrerin eher auffallen? Der Junge, der auf dem Tisch rumhüpft oder das Mädchen, das hinten in der Klasse aus dem Fenster starrt? Die Frage lässt sich leider immer noch nicht eindeutig beantworten. Deshalb schieben sich die Diagnosen von weiblich sozialisierten Menschen oft weit nach hinten, wenn sie überhaupt stattfinden. Bis dahin ist dann oft schon viel passiert.

Vielen Frauen und weiblich gelesenen Menschen wird schon die Möglichkeit abgesprochen, überhaupt ADHS zu haben – eben weil sie nicht negativ auffallen und ihr Leben nach außen bestens zu laufen scheint. Doch genau dieses scheinbar Perfekte kann ein wichtiger Hinweis sein. 

Gender Bias oder auch Sex Gap nennt man die Voreingenommenheit, die allein durch die Verknüpfung eines Themas mit einem bestimmten Geschlecht entsteht. Dieses Phänomen kann bei Forschenden, Mediziner*innen und diagnosestellenden Personen dazu führen, dass eine mögliche Feststellung bereits im Keim erstickt wird.

Da wird weiblich gelesenen Menschen schon beim Vorgespräch weisgemacht, sie könnten kein ADHS haben, weil sie zu gut in der Schule waren, weil sie zu beliebt oder attraktiv seien, weil sie es geschafft hätten, einen Abschluss zu absolvieren, einen Job und/oder eine Partnerschaft zu halten oder eine Familie zu gründen. Alles natürlich keine Gründe, jemandem eine Diagnose zu verwehren – aber das muss man erstmal wissen, wenn man monatelang auf den Termin gewartet hat. Wenn man Wochen vorher nicht mehr schlafen konnte und versucht, immer noch einen bestmöglichen Eindruck zu machen, obwohl man bereits mit einem Bein im Burnout steht. Nur um dann mit wenigen Worten abgefrühstückt zu werden, mit noch mehr Fragezeichen aus dem Behandlungszimmer zu treten und das Gefühl zu haben, man sei mit all seinen Struggles ganz alleine, und nicht einmal ein Mensch vom Fach könne einen verstehen.

Und das gilt ja nur für die Personen, die bereits selbst den Verdacht hatten, ADHS sei die Antwort auf all ihre Fragen. Wie viele begeben sich völlig unwissend in die Hände von Fachleuten und bekommen alle möglichen Diagnosen: von Angststörungen über Borderline-Persönlichkeitsstörungen bis zu Depressionen. Dabei überlagern diese Erkrankungen häufig nur die eigentliche Ursache ADHS und sind oft nur eine Reaktion darauf, in einer Welt leben zu müssen, die für ein ADHS-Gehirn nicht gut geeignet ist.

Meister*innen der Tarnung

Weiblich sozialisierte Menschen mit ADHS sind oft Meister*innen der Tarnung. Deshalb brauchen Fachleute dringend mehr Expertise. Ein weiterer Grund, der für fehlende, späte oder falsche Diagnosen sorgt, nennt sich „Masking“. Das sind Bewältigungsstrategien, die vor allem von Frauen angewandt werden. So werden Symptome unterdrückt, überspielt und kompensiert, um Erwartungen zu erfüllen und nicht weiter aufzufallen.

Zeigen sich bestimmte Symptome dann doch mal, werden sie schnell zu Charaktereigenschaften erklärt: Das ist doch typisch Mädchen – immer am Quatschen oder schüchtern und zurückhaltend, überemotional, empfindlich, verpeilt, chaotisch und verträumt. Alles ganz normal. Dass dies aber die typischen Symptome sind, die vor allem mit weiblich sozialisierten Kindern in Verbindung gebracht werden, ist den wenigsten bewusst.

So kann sich ADHS bei Mädchen und weiblich sozialisierten Personen zeigen: 

  • häufig: scheinbare Unaufmerksamkeit, z.B. als Tagträumerei
  • Gefühl, dass ihre Emotionen außer Kontrolle geraten
  • empfindlich gegenüber Kritik
  • unorganisiert und chaotisch, z. B. im Zeitmanagement
  • Schwierigkeit, Fristen einzuhalten oder Dinge zu erledigen
  • scheinbar nicht motiviert 
  • oft vergesslich
  • überempfindlich bei Geräuschen, Stoffen und Licht, aber auch bei Emotionen, Körpersprache und Ungerechtigkeit 
  • hoher Redefluss und Neigung, andere zu unterbrechen
  • aber auch: schüchtern und zurückgezogen 
  • niedriges Selbstwertgefühl
  • soziale Angst
  • innerer Wunsch, anderen zu gefallen

Als Erwachsene fühlen sich diese Symptome dann oft wie persönliches Versagen an, und das Schamgefühl ist sehr hoch. Schließlich schaffen es ja alle anderen auch, kriegen Job, Partnerschaft, Freundschaft, Haushalt und Selfcare problemlos unter einen Hut – während man selbst scheinbar nichts auf die Reihe bekommt. Das gibt dem meist schon stark belasteten Selbstwertgefühl oft den Rest. Häufig entwickeln undiagnostizierte und/oder unbehandelte Menschen mit ADHS sogenannte Komorbiditäten, also Folgeerkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, Substanzmittelstörungen, Verhaltensstörungen oder andere psychische Erkrankungen. Wer es dann doch irgendwann schafft, sich professionelle Hilfe zu suchen und ggf. eine Diagnose zu bekommen, ist häufig schon weit über das persönliche Limit hinaus und kann erstmal nur Schadensbegrenzung betreiben. Abgewimmelt zu werden oder eine falsche Diagnose zu erhalten, kann die Situation noch verschlimmern. Meistens lässt sich alles auf einen Satz zurückführen, den man seit der frühesten Kindheit immer wieder zu hören bekommen hat: „Du bist selber schuld!“ oder „Du musst dich einfach mal zusammenreißen und an dir arbeiten!“ Ein Trugschluss, wie wir gleich sehen werden.

Die Ursache von ADHS ist neurobiologisch

ADHS hat nichts mit Charakter oder mit Schuld zu tun. Es geht nicht um Willenskraft, Faulheit, fehlende Strukturen oder Motivation, schlechte Erziehung, zu viel Fernsehen oder Zuckerkonsum. 

ADHS ist ein neurobiologischer, struktureller Unterschied im Gehirn, der vererbbar ist. Der zwar von verschiedenen Faktoren beeinflusst werden kann und sich dann dementsprechend unterschiedlich ausprägt, aber er wird voraussichtlich für immer bestehen. Da kann auch keine Diagnose oder Behandlung etwas dran ändern. 

Grund dafür ist, vereinfacht gesagt, vor allem ein Neurotransmittermangel im präfrontalen Kortex. Und leider gibt es auch hier einen genderspezifischen Aspekt, der diesen Mangel noch widersprüchlicher und schwieriger macht: Östrogen. Als wäre es nicht schon komplex genug, verändert der Hormonspiegel einer menstruierenden Person die Symptome sowohl im Laufe eines Monats als auch im Laufe ihres gesamten Lebens.

Wie Social Media für einen Perspektivwechsel sorgt

Doch es tut sich etwas. Und das ist vor allem der Verdienst junger Frauen mit ADHS, die darüber auf Social Media im großen Stil aufklären. TikTok, Instagram & Co. boomen nur so vor lustigen Videos, spannenden Fakten und nahbaren Stories. Auch wenn die Inhalte den Sachverhalt oft nur verkürzt darstellen können und es sicher auch nicht immer förderlich ist, wenn medizinische Themen in ihrer Komplexität runtergebrochen werden – schließlich besteht die Gefahr, dass sich plötzlich jede*r darin wiederfindet – dieses Movement trägt dazu bei, dass Menschen sich auf die Suche nach Antworten und Hilfe machen. Dass sie sich mit anderen connecten, austauschen und einander weiterhelfen. Und dass sie einfach das Gefühl bekommen, dass sie nicht alleine damit sind. Dass ihr Hirn zwar vielleicht anders tickt, aber dass daran nichts weiter schlimm ist. Im Gegenteil. 

Weitere Links und Infos über ADHS im Erwachsenenalter: 


Wenn wir von Frauen und Mädchen oder von Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf strukturelle gesellschaftliche Rollen, die weiblich und männlich gelesene Personen betreffen. Gleiches gilt für die Adjektive “weiblich” und “männlich”. In Statistiken und Studien, die wir zitieren, wird leider oft nur zwischen Frau und Mann differenziert.

Bildquelle: istock: skynesher