Was ist toxische Männlichkeit?

Toxisch bedeutet giftig oder, im übertragenen Sinne, schädlich. Maskulinität heißt Männlichkeit. Giftige Männlichkeit – das klingt irgendwie abstrakt und ein bisschen übertrieben. Oder? Dabei kann Männlichkeit wirklich toxisch sein. Und zwar auch für männliche Personen selbst.

Vielleicht hilft ja ein Beispiel zur Veranschaulichung. Ein kleiner Junge wird in der Schule von seinem Lehrer dafür ausgelacht, dass er seiner Mama zum Abschied zuwinkt. Folge: Er will ihr nicht mehr winken.

Er lernt durch die Reaktion seines Lehrers, dass Gefühle wie Zuneigung offen auszudrücken für Jungs nicht okay ist und passt sein Verhalten an. Sowas wird ihm beim Aufwachsen immer wieder passieren. Das kann sich später negativ auf sein Leben auswirken. Zum Beispiel auf seine Freund*innenschaften und Beziehungen.

Genau darum geht es bei dem Begriff toxische Männlichkeit. Um eindimensionale, einschränkende und schädliche Vorstellungen davon, wie sich männliche Personen zu verhalten und zu fühlen haben, um in der Gesellschaft als männlich zu gelten und akzeptiert zu werden. 

Das gilt nicht nur für heterosexuelle cis Männer. Jede*r, der maskulin wirken will und sich deshalb entsprechend verhält, kann in toxische Männlichkeit abrutschen. Denn die ist nun mal die dominante Form von Männlichkeit in unserer Gesellschaft.

Ein „richtiger Mann“ zu sein bedeutet demnach: Nie Schwäche zeigen, keinesfalls um Hilfe fragen, bloß nicht liebevoll und zärtlich sein, keine Fehler zugeben. Und schon gar nicht öffentlich weinen – es sei denn, der Lieblings-Verein verliert. Stattdessen immer stark, rational, im Recht und sexuell allzeit bereit sein. Steak und Bier statt Salat und Prosecco, Bodybuilding statt Eiskunstlauf, Jäger statt Sammler, Mars statt Venus. Und so weiter.

Dieses Männerbild sehen wir in Büchern, Serien und Filmen oder auch in der Werbung. Wie hier:

Doch auch auf dem Schulhof, in der Uni oder am Arbeitsplatz wird jeden Tag festgelegt, was Männlichkeit heißt. Durch Gesten, Gespräche und Reaktionen. Wie bei dem Jungen am Anfang des Textes.

Dabei entsprechen die allerwenigsten Männer diesen ultra-maskulinen Standards oder praktizieren sie zu 100 Prozent, wie die Soziologin Raewyn Connell in ihrem Buch Masculinities schreibt. 

Warum genau ist das toxisch?

Toxisch – also schädlich – sind diese destruktiven Denk- und Verhaltensweise für alle. Wirklich alle. Für die Gesellschaft, das unmittelbare Umfeld und auch für die männlichen Personen selbst. 

Auf bestimmtes „männliches“ Verhalten festgelegt zu sein und es immer wieder beweisen zu müssen, ist extrem einschränkend. Wie viele Weltklasse-Eiskunstläufer aufgrund toxischer Männlichkeit wohl nie einen Schlittschuh angezogen haben! Oder wie viele männliche Personen gern einen Rock tragen würden, sich aber selbst in einem schottischen Kilt komisch vorkommen. Und wie viele Beziehungen wohl gescheitert sind, weil „er keine Gefühle zeigen kann“…

Wie viele Weltklasse-Eiskunstläufer aufgrund toxischer Männlichkeit wohl nie einen Schlittschuh angezogen haben!

Wenn männliche Gefühle nur als Wut und Aggression ausgedrückt werden dürfen, dann ist das aber auch eine Erklärung für männliche Gewalt. Von der Staats-Ebene in Form von eskalierenden Konflikten bis zu Gewalt gegen andere Männer – genauso wie gegen Kinder, weibliche Personen, queere und non-binäre Menschen. Und in verschiedenen Formen auch gegen sich selbst.

Maskuline Personen gehen beispielsweise häufig nicht gut mit ihrem Körper um. Sie neigen eher zu Suchtverhalten und vernachlässigen ihre Gesundheit. Oft können sie weder eigene Grenzen noch die anderer Menschen respektieren. 

[TW: sexualisierte Gewalt] Das spielt auch beim Thema Sexualität eine Rolle. Zu Vorstellungen toxischer Männlichkeit gehört, dass männliche Personen immer Sex haben wollen und können. Und auch, dass er ihnen zusteht. Das zeigt, wie toxische Männlichkeit mit Rape Culture (Vergewaltigungskultur) zusammenhängt. Aber auch, wieso männliche Personen angeblich keine sexualisierte Gewalt erleben können: Weil sie Männer sind, wollen sie schließlich von Natur aus IMMER. Nur stimmt das halt einfach nicht.

Männlichkeit, Weiblichkeit – alles Fiktion!

Dahinter steckt das Patriarchat mit seinen verkrusteten, alten Rollenbildern. Damit Frauen das schwache Geschlecht sein – und klein gehalten werden – können, müssen Männer die Starken sein. Maskulinität kann nur in Abgrenzung zu Femininität existieren.

Die Aufteilung in zwei voneinander abgegrenzte Geschlechter ist jedoch Quatsch. Diese Rollen sind bloß ausgedacht: Niemand wird mit einem Prosecco-Glas oder einer Kurzhantel in der Hand geboren. Das soziale Umfeld bestimmt, was Männlichkeit und Weiblichkeit bedeuten. Alles Fiktion!

Die gute Nachricht: Weil das so ist, können wir es ändern.

Denn Männer sind so komplexe Wesen wie alle anderen Menschen auch. Mit einer Bandbreite an Gefühlen und Bedürfnissen, die vom Patriarchat eingeschränkt und unterdrückt werden. 

Männer dürfen weinen, Schwäche und Gefühle zeigen, zur Therapie gehen, etwas nicht wissen, keine Lust auf Sex haben und lieber kuscheln wollen, Nagellack tragen, Problemgespräche führen, Sekt schlürfen, Salat essen, Fußball doof finden und Eiskunstlauf lieben. Und dabei ganze Männer sein, wenn sie das wollen. 

Denn Männlichkeit an sich ist nicht das Problem, sondern wie sie definiert ist. Es liegt an uns, Männlichkeit – dieses ausgedachte Prinzip – umzudeuten und mit neuen Ideen zu besetzen. Denn eins ist klar: Ohne toxische Männlichkeit wäre die Welt ein besserer Ort. Und zwar für alle.

Hier unser Video mit Jochen Schropp zum Thema ansehen:


Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich gelesenen Personen betreffen. Ebenso verhält es sich mit Jungen und Männern.

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