Barbie - wie divers ist Perfektion?

Barbie – Wie divers ist Perfektion?

Mit Barbie verbindet PINKSTINKS eine ziemlich wechselvolle Geschichte. Der gesundheitsschädigende Schönheitswahn, den Barbie seit ihrer Geburtsstunde transportiert, war für uns schon 2013 der Grund, gegen die Eröffnung vom Barbie Dreamhouse auf die Straße zu gehen. Das ist 10 Jahre her – und heute? Ist Barbie omnipräsenter denn je, bricht Kino-Rekorde – und setzt dabei auf Feminismus und Diversität. Übernimmt Mattel tatsächlich gesellschaftliche Verantwortung oder betreibt der Konzern schlichtweg Pinkwashing? Und wenn – sollte uns das stören?

Spätestens wenn sich das eigene Kind oder Kinder aus dem Umfeld eine Barbie wünschen, kommt die Frage auf, was der Einzug ins Kinderzimmer ganz praktisch bedeutet. Ist das Spielen mit ihr noch – oder sogar wieder – zeitgemäß oder eher anti-feministisch? Zeit für eine Analyse zum Barbie-Hype.

Eine Puppe geht arbeiten. Revolution oder Reklame?

Als erste Puppe der Welt zog Barbara Millicent Roberts (so lautet Barbies vollständiger Name) den Strampler aus, verließ damit Heim und Herd und suchte sich einen Job: Barbie war Eisverkäuferin in ihrer eigenen Eisdiele, Ärztin, Sportlerin oder Astronautin. Keine Karriere zu schwierig, kein Ziel zu hoch. Alles ist möglich, sogar in Heels.

Im Kontext der Zeit – wir befinden uns zu Barbies Geburtsstunde in den 50ern – war das ein krasser Fortschritt. Wenn man bedenkt, dass Frauen auch in Deutschland noch bis 1977 ihre Ehemänner um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie ein Arbeitsverhältnis eingehen wollten. Barbie ist unabhängig. Sie hat ihr eigenes Haus, ihr eigenes Auto und einen Traumjob nach dem anderen. So weit, so revolutionär.

Wird aber die Tatsache, dass Barbie arbeitet, in heutiger Zeit als revolutionär feministisch inszeniert, ist das – sorry – nur noch armselig. Wer den Barbie-Film gesehen hat, erinnert sich bestimmt an die Kinder, die durch Barbie – endlich, endlich – vom Spiel mit ihren Babypuppen “befreit” werden. Und wir wissen nicht, ob wir über die monumentale Inszenierung von Barbie als Feministin lachen oder weinen sollen. Ja, der Film ist eine Satire. Aber leider auch ja: Ohne feministische Vorbildung oder die Möglichkeit, Referenzen und Kontext herzustellen, bleibt genau das hängen. Nämlich, dass Barbie Feministin ist. Und damit ein tolles Rolemodel. Und so glauben Kinder und Jugendliche mit dem pinken Barbie-T-Shirt am kindlichen Körper und einer superdünnen Puppe in der Hand für eine vermeintlich moderne Welt zu stehen. Eine feministische Erzählung mit einem „hyperweiblichen“ Produkt ist ein No Go. Geht nicht, Leute. Erst recht nicht, wenn Kinder wortwörtlich im Spiel sind.

Eine hyperschlanke Puppe als Diversitäts-Botschafterin?

Mit der Vereinnahmung von emanzipatorischen Themen hört es leider nicht auf. Auch Diversität war anscheinend ein Punkt im Marketingplan von Mattel. Ist doch gut, oder? Jein. Je mehr uns Menschen ähneln, desto stärker fühlen wir uns mit ihnen verbunden. Ein Effekt, den wir als Erwachsene zum Beispiel aus Filmen kennen und Kinder unter anderem von ihren Puppen. So wird ein Kind of Color sich stärker mit einer Puppe of Color verbunden fühlen. Und ein Kind mit Behinderung, stärker mit einer Puppe mit Behinderung. Es ist richtig und wichtig, wenn Puppen die Diversität der Gesellschaft abbilden. Aber was, wenn diese Puppe auf der anderen Seite ein völlig utopisches Körperbild repräsentiert?

Verschiedene Hautfarben, mit Hörgerät oder Prothese, dünn und … nein, nicht curvy.

Bei der ersten Barbie konnten Kaufende zwischen blonden und brünetten Haaren wählen. Kinder und Erwachsene mussten allerdings noch bis in die 80er Jahre warten, bis es Barbie auch als Woman of Color und Schwarze Frau in die Spielwarenläden schaffte*. 

Im Jahr 2019 erschien die erste reguläre Barbie im Rollstuhl, 2022 konnte man sie erstmals mit der chronischen Hauterkrankung Vitiligo sehen und 2023 machte eine der Puppen Schlagzeilen, weil sie die erste Barbie mit Trisomie-21 war. Aber geht es hier wirklich um echte Repräsentation und Diversität? 

Antworten darauf finden wir im Jahr 2016. In diesem Jahr stellte Mattel aufgrund der Kritik an Barbies Körper und steigender Nachfrage drei neue Barbie-Ausführungen mit unterschiedlichen Maßen vor, die verschiedene Körperformen abbilden sollten. Tall, petit und finally: curvy. Längst überfällig, denn seit ihrer Geburtsstunde war Barbie schließlich nicht nur hauptsächlich weiß und blond, sondern vor allem eines: so dünn, dass ihre Figur nicht nur unrealistisch, sondern sogar körperverachtend ist. Barbies Taille ist gemessen an einem realen Menschen dermaßen schmal, dass darin nicht mal alle lebensnotwendigen Organe Platz hätten. Mit ihrem Körperfettanteil wäre Barbie aus gesundheitlichen Gründen nicht einmal mehr in der Lage zu menstruieren.
Und nun ratet mal, welche Kleidergröße das Curvy-Modell hatte? Ihr ahnt es: 36/38! Durchschnittliche Kleidergröße von Frauen in Deutschland? 42/44.  

Wie kann man das bitte als „Diversity“-Erfolg feiern? 

Sorry, Mattel, aber das ist leider ein Witz, bei dem uns das Lachen im Hals steckenbleibt. Not funny Fact: Der ist bei Barbie ebenfalls unglaublich dünn und sorgte mit Start des Barbie-Films diesen Sommer für einen rasanten Anstieg von Schönheits-OPs. Bei einer sogenannten Barbie-Botox-Behandlung wird Botulinumtoxin in den Trapez-Muskel gespritzt, wodurch sich die Schultern leicht absenken. Dadurch wirkt der Hals schmaler und länger. Gesundheitliche Risiken wie die Einschränkung der Bewegungsabläufe selbstverständlich inklusive.

Wir feiern Diversität und Repräsentation. Aber wer glaubt, Mattel würde aus ernsthaftem Interesse an Diversität neue Puppen kreieren, übersieht, dass es sich bei dem Unternehmen um einen Konzern handelt, der nur eins will: verkaufen. Für Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie bei Eltern, Psycholog*innen und Ärzt*innen nach. 

#Fail: Repräsentation, ohne zu repräsentieren.

Egal ob blond und „curvy“, mit Trisomie-21 oder als Petit-Barbie mit Afro: Alle Barbies sind nach dem klassischen gesellschaftlichen Schönheitsideal makellos. Sie haben keine unreine Haut oder Cellulite, keine unterschiedlichen Brüste und niemals schlechte Laune. Den „Bad Hair Day“ gibt es nur, wenn jemand nach der Bastelschere greift. 

Wie divers ist Perfektion, wenn sie durch Ideale definiert wird, die aus dem Patriarchat stammen? Die Art von Perfektion, die in unserer Gesellschaft von weiblich gelesenen Menschen erwartet wird: freundlich, stets gut gelaunt und hübsch sein. Kurzum: Dem male gaze gefallen. Auch 2023 ist Barbie noch immer der Inbegriff heteronormativer Weiblichkeit. Und auch der von vielen gefeierte Barbiefilm traut sich maximal so viel Queerness zu, wie sich andeuten lässt, ohne sie wirklich zu benennen.

Ein Beispiel für diese Perfektion nach Maßstäben des Patriarchats ist die Frida-Kahlo-Barbie, die 2018 zum Weltfrauentag in einer Serie zu Ehren „inspirierender Frauen“ im Repertoire von Mattel erschien. Die berühmte Monobraue der mexikanischen Malerin nur angedeutet, die Figur Barbie-typisch dünn und groß, mit schmalem Gesicht, großen Mandelaugen und ohne ein einziges Haar auf der Oberlippe. Frida Kahlo, die 1954 verstorben ist und sich ihr Leben lang für die Emanzipation und Gleichberechtigung von Frauen einsetzte, bewegte sich immer wieder fließend zwischen den Geschlechtern und stand schon damals offen zu ihrer Bisexualität. Ihre Schönheit ist von anderer Art als die, die im Schönheitsideal des Patriarchats vermittelt wird. Die Familie der Künstlerin reichte Klage ein, weil Mattel die Barbie ohne ihre Zustimmung ins Programm genommen hatte. Es gehe dabei nicht nur um einen Rechtsstreit, sondern auch um eine authentische Darstellung ihrer Tante, sagte Kahlos Großnichte. Sie hätte sich eine Puppe gewünscht, die „repräsentiert, was ihre Tante repräsentiert hat.“  Unsere Gedanken zur Umsetzung der Frida-Kahlo-Barbie: einfach dreist. 

Es ist schon schlimm genug, wenn der Oberlippenbart weiblich gelesener Personen abgewertet und kommentiert wird. Und jetzt wird sogar ein so markantes und ermächtigendes Markenzeichen einer feministischen Ikone einfach wegradiert?!

Aber ist das alles wirklich so schlimm? Ist es.

Beobachten wir Kinder beim Spielen, können kleine Steine riesengroße Superheld*innen sein und unförmige Kartons schnittige Rennwagen. Ist es also wirklich so schlimm, wenn Spielzeuge unrealistische Abbilder sind? 

Ob Barbie einen Effekt auf das kindliche Selbstbild hat, untersuchte 2006 eine Studie von Wissenschaftlerin Helga Dittmar. Achtung, Spoiler: JA, ganz eindeutig! In der Studie wurden Mädchen im Alter von fünf bis acht Jahren in zwei Gruppen aufgeteilt: Die eine Gruppe beschäftigte sich mit Bildern von stereotypen Barbies, die andere nicht. Anschließend beantworteten sie Fragen zum eigenen Körperbild. Und tatsächlich: Die Kinder, die sich mit Barbie beschäftigt hatten, waren danach im Schnitt unzufriedener mit ihrem eigenen Körper. Dittmar schloss aus den Ergebnissen außerdem, dass die Schädigung des kindlichen Körperbildes die Entstehung von Essstörungen und Gewichtsschwankungen begünstigen könnte.

Ein Sprecher von Mattel sieht das anders: „Barbie ist nicht nach einem menschlichen Maßstab hergestellt. Barbie erlaubt es Mädchen davon zu träumen, dass sie alles sein können, was sie wollen, wenn sie groß sind.“

Mädchen können mit Hilfe von Barbie also alles sein, was sie wollen, wenn sie groß sind? Bedeutet das nicht auch, dass sie in diesen Träumen immer dünn sind und lächeln, egal, was passiert? Dass sie alles schaffen können – vorausgesetzt, sie sind nach heteronormativen Standards “schön”?

Frauenrechtlerin Gloria Steinem sagte in einer Dokumentation dazu folgendes: „Barbie war all das, was wir nicht sein wollten … all das, wovor die feministische Bewegung zu entkommen versuchte.“

Mein Kind möchte aber unbedingt eine Barbie. Und nun?

Gar nicht so einfach, das alles gedanklich zu sortieren, oder? Genau aus diesem Grund braucht es eine Einordnung, wenn sich Kinder mit Barbie beschäftigen. Die fehlt im Spielzeugladen, auf der Produktverpackung, im Kinderzimmer von Freund*innen. 

Auch, wenn es erstmal paradox klingt, finden wir: Ja, Kinder sollten mit Barbies spielen dürfen. Übrigens ganz unabhängig von ihrem Geschlecht! Aus unserer Sicht ist es nämlich viel wirksamer, Barbie in einen altersgemäßen Kontext zu setzen, als sie grundsätzlich zu verbieten. Was wir als Bezugspersonen tun können, ist, Kindern im Spiel zu begegnen und ab und zu Alternativen anzubieten. So können sie sich ausprobieren und vielleicht sogar neue Interessen und Stärken entdecken. Denn: Im Spiel probieren Kinder aus, welche Rollen sie in der Gesellschaft einnehmen können und wollen. 

Was wir noch tun könnten? Bei Lammily, Tebalou oder weiteren kleineren Firmen gibt es auch Puppen mit anderen Kleidern, Hautfarben und realistischeren Körpermaßen. Und wenn’s unbedingt Barbie sein muss, haben wir die Möglichkeit, mit Kindern ins Gespräch zu gehen. Wir können gemeinsam über verschiedene Hautfarben, Körperformen und Behinderungen reden. Oder darüber, was für einen tollen Job unser Körper jeden Tag so leistet! Wir können über glatte und haarige Beine sprechen, über kleine und große Nasen und darüber, wie wunderschön unterschiedlich wir alle sind.

Beim Spielen darf Barbie nicht nur schön, sondern auch frech, schlau oder ganz schön stark  sein. Ihr freundliches Lächeln kann Anlass werden, unsere Kinder mal zu fragen, ob sie wirklich immer so gute Laune hat. Sie darf sich auch wütend oder traurig fühlen. Oder Fehler machen! Vor allem kann Barbie beim Spielen alles tun, was die Kinder sich ausdenken. Nicht bloß Karriere machen und dabei perfekt aussehen. Und vielleicht dürfen wir als Bezugspersonen ja sogar einen leichten Oberlippenflaum aufmalen…

*Es gab bereits seit den Sechzigern Puppen of Color. Die wurden aber als Freundinnen von Barbie vermarktet. Die erste Schwarze Puppe war Christie. Ähnlich verhält es sich mit Barbie im Rollstuhl: Auch vor 2019 gab es eine Puppe aus dem Barbie-Universum im Rollstuhl. Es war aber nicht Barbie selbst.

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Unsere Gesellschaft ordnet uns je nach Geschlecht bestimmte Rollen zu, mit denen (vermeintliche) Rechte, Pflichten und Fähigkeiten einhergehen. Wenn wir in unseren Texten von Frauen oder Mädchen bzw. Männern oder Jungs sprechen, beziehen wir uns auf diese strukturellen und stereotypen Rollen und nicht auf ihre tatsächliche Geschlechtsidentität. Das gleiche gilt, wenn wir die Adjektive „weiblich“ oder „männlich“ verwenden.

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Bildquelle: istock, surachetkhamsuk