Das System Einzelfall - ein Text von Nils Pickert über MeToo, Rammstein und die Unschuldsvermutung

Das System Einzelfall

Eine Kolumne von Nils Pickert

Triggerwarnung: Die folgenden Inhalte behandeln Themen wie sexualisierte Gewalt, MeToo und Victim Blaming.

Es ist dieser Tage ausgesprochen schwer, nicht zum Zyniker zu werden. Einmal mehr „erschüttert ein MeToo-Skandal Deutschland“, der alles für immer verändern wird, und ausgerechnet diese Band, dieser Typ, wer hätte das gedacht, künstlerische Freiheit, Unschuldsvermutung, Vorverurteilung, blablabla bis zum nächsten Mal. Nicht, dass wir uns missverstehen: Die Sachverhalte rund um den Rammstein-Frontmann Till Lindemann aufzudecken und die Verantwortlichen ggf. zu bestrafen, ist wichtig und unumgänglich.

Aber wenn man als mittelalter Sack wie ich so viele „Das wird Deutschland für immer verändern“-Wellen von „Vielleicht reden wir jetzt doch mal über systematische sexualisierte Gewalt gegen Frauen und tun nicht so, als wäre da nichts“ hat kommen und gehen sehen, bezweifelt man, dass sich wirklich substanziell etwas ändern wird.

Ich war ein junger Mann Anfang zwanzig, als ich zum ersten Mal den Eindruck hatte, dass Misogynie und Frauenverachtung in diesem Land maximal zu einem kurzen Aufschrei führen, sich aber ansonsten viel zu viele Leute darin wohlfühlen und daran (gerade in diesem Fall) buchstäblich aufgeilen, als dass es wirklich Konsequenzen gäbe. Damals hetzte die Bildzeitung die Schauspielerin Sibel Kekilli mit übergriffigen, rechtswidrigen Anspielungen und Ausschlachtungen ihrer kurzen Zeit als Pornodarstellerin durch das ganze Land und viel zu viele machten mit. Fragten, wie sich das wohl so anfühlt und was die Eltern dazu sagen – es war einfach widerlich. Ein Gericht beurteilte das Vorgehen der Bild anschließend als Kampagne, mit der die Schauspielerin „in höhnischer Weise herabgesetzt und verächtlich gemacht werden sollte“ und sah sie in ihrer Menschenwürde verletzt. Knapp 10 Jahre später fand der damals verantwortliche Chefredakteur Kai Diekmann die „Ursprungsberichterstattung in Ordnung, aber die darauffolgende hätten wir deutlich abkürzen können“. Und was etwaige Konsequenzen aus dem Vorgang angeht: Wie folgenlos all das blieb und bleibt, haben die Jahre unter Julian Reichelt ja gezeigt. Nichts bleibt hängen, nichts bleibt kleben. Vielleicht wird das ein oder andere sexistische Arschloch ausgetauscht. Aber das ändert nichts an der systematischen Frauenverachtung.

Das zeigt sich auch und gerade an dem Phänomen, das MeToo in jeder kleinen Sparte immer wieder von vorn anfangen und Anlauf nehmen muss. Deutschrap-MeToo, Theater-MeToo, Fahrschul-MeToo, Politik-MeToo, Kunst-MeToo, Uni-MeToo, Springer-MeToo und jetzt eben Rockmusik-MeToo. Jedes Mal wird so getan, als gäbe es keinen größeren Zusammenhang. Als wäre da nur dieses eine kleine Feld in einer gleichberechtigten, machtsensiblen und gewaltfreien Gesellschaft, in dem es leider, leider noch Missstände gibt, die nur kurz mal eben behoben werden müssen und dann ist alles wieder gut.

Nichts ist gut. Denn anstatt mit Popcorn darauf zu warten, ob ein „Einzelfall“ jetzt das ganze System verändern wird, müssten wir eigentlich das System verändern, damit es nicht mehr zu all diesen „Einzelfällen“ kommt. Es gibt zahlreiche Gründe, warum das nicht geschieht. Die meisten von ihnen lassen sich in drei großen Blöcken zusammenfassen.

Realitätsverleugnung: Die wenigsten wollen wahrhaben, wie tief wir als Gesellschaft in die systemische (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen verstrickt sind. Wir erklären den Standard zum Ausnahmefall. Der doch nicht. Du doch nicht. Nicht doch so viele?!

(Sexualisierte) Gewalt gegen Frauen ist aber kein Randphänomen. „Jede dritte Frau“ bedeutet eben auch eine gewaltige Anzahl von Tätern. Nicht einen. Nicht zwei. Nicht ein paar. Millionen. Diese Realität nicht zur Kenntnis zu nehmen, schützt und ermöglicht Täter auf Kosten Betroffener. Solange wir die Wirklichkeit nicht anerkennen, solange wir uns nicht eingestehen, dass Gewalt gegen Frauen zum Fundament dieser Gesellschaft gehört, werden wir keine bessere und gerechtere errichten können.

Objektifizierung: Die ist ein Groupie. Eine Schlampe. Warum geht die auf ein Rockkonzert? Nachts raus? Zieht sich so an, führt sich so auf, trinkt Alkohol, hat Sex? Nichts davon ist berechtigt oder auch nur relevant. Es gibt kein Recht auf sexualisierte Gewalt. Das mag trivial und selbstverständlich klingen, ist es aber nicht. Tatsächlich wird behauptet, dass wir das alle wüssten, während wir in Wahrheit so leben, als gäbe es dieses Recht eben doch.

Hierzu werden Frauen entmündigt, verdinglicht und zum Nutzobjekt gemacht. Ein Gegenstand bestimmt nicht darüber, wer ihn ansieht, wo man ihn hinstellt und ob man ihn vor Wut zu Bruch schlägt. Ein Gegenstand lässt mit sich machen.

Unterstellung: Wenn Männer der sexualisierten Gewalt gegen Frauen bezichtigt werden, gibt es spezifische Vorgehensweisen, um die Betroffenen als unglaubwürdig darzustellen. Ihre Glaubwürdigkeit wird infrage gestellt, ihre Motivation als unredlich charakterisiert und ihre Vorgehensweise skandalisiert: zu lange her. So nicht. Was verspricht die sich davon? Bei keinem anderen mutmaßlichen Verbrechen wird eine mögliche Falschbeschuldigung so rasch auf den Plan gerufen wie bei diesem. Und das, obwohl die Zahlen das weder hergeben noch hergeben können. Bei keinem anderen mutmaßlichen Verbrechen wird die Unschuldsvermutung so grotesk verzerrt. Denn die gilt nämlich nicht nur vollkommen zu Recht für mutmaßliche Täter, sondern auch für die mutmaßlichen Opfer. Um das mal geradezurücken: Im Fall Lindemann existieren mehrere eidesstattliche Aussagen gegen den Sänger. Falschaussagen sind Straftaten – was ist eigentlich mit Unschuldsvermutung für diese Frauen, dass sie keine Straftat begangen haben? In Ermittlungen und Debatten der Unschuldsvermutung Raum zu geben, heißt mutmaßliche Täter nicht vorzuverurteilen. Es heißt aber eben auch, mutmaßliche Opfer nicht mit Dreck zu beschmeißen.

Die Forderung „Glaubt Frauen!“, die im Zuge der MeToo aufgekommen ist, bedeutet eben nicht, dass Frauen qua Geschlecht immer recht haben, nie lügen, keine Täterinnen sein können oder falsch beschuldigen. Es bedeutet, dass wir aus einer Kultur kommen, in der Frauen grundsätzlich misstraut wird, wenn sie Anschuldigungen wegen sexualisierter Gewalt erheben. Und genau das ist ein Fehler. Es gibt absolut keinen Grund, Frauen grundsätzlich zu misstrauen. Stattdessen haben wir allen Grund, Frauen in dieser Sache grundsätzlich mit Vorsicht zu vertrauen und die Anschuldigungen entsprechend zu prüfen.

Genau das würde nämlich die Realität widerspiegeln. Je länger wir uns weigern, die Realität Betroffener anzuerkennen, umso länger verharren wir in der Wirklichkeit der Täter. Und in der Wirklichkeit der Täter schwanken wir von einem „Einzelfall“ zum nächsten, regen uns ein bisschen auf, fragen uns, wie das passieren konnte, zeigen uns erschüttert oder entrüstet und ergreifen Partei – bis zum nächsten Mal.

Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen. Häufig greifen wir auch Statistiken auf, die meistens leider nur die binären Geschlechter “Frau” und “Mann” berücksichtigen. 

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Bildquelle: Pinkstinks Germany e.V.


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