Eine Kolumne von Nils Pickert
Einem Publikum aus seinen eigenen Büchern vorlesen zu können, ist ein großes Geschenk. In letzter Zeit habe ich das vor allem mit meinem Kinderbuch „Seeräubermädchen und Prinzessinnenjungs“ machen dürfen, weil es das Buch ist, das zuletzt von mir erschienen ist. Ich werde aber tatsächlich ab und an auch noch eingeladen, um aus meinem Erstling „Prinzessinnenjungs“ vorzulesen, der immerhin schon vier Jahre alt ist. Vier Jahre sind nicht besonders lang, aber mit Blick auf Buchveröffentlichungen schon eine kleine Ewigkeit. Viele Dinge haben sich seitdem verändert, aber die zwei meistgestellten Fragen zu diesem Buch haben sich nicht geändert. Da ist einmal die Betroffenheitsfrage:
Ich habe einen kleinen Jungen und bin in folgender Situation – was kann ich tun, welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Ich mag diese Frage, weil sie ohne Umstände gleich zur Sache kommt und zeigt, worum es geht. Um reale Veränderungen nämlich, um Alternativen zu einer Männlichkeitszwangsjacke, die niemandem wirklich zu passen scheint.
Und dann ist da noch die Frage danach, wie ich dazu gekommen bin, dieses Buch zu schreiben. Auch diese Frage mag ich sehr. Also erzähle ich. Ich erzähle, dass mir nicht gefällt, wie alle Welt behauptet, dass Jungen nicht mehr Jungen sein dürften, obwohl sie in Wahrheit noch nie sie selbst sein durften, weil ständig an ihnen gezerrt und herumerzogen wird. Ich bekenne, dass mir die Idee gefallen hat, als Erstes mit einem Buch über Jungen und Männer um die Ecke zu kommen, weil mir seit Jahr und Tag ernsthaft vorgeworfen wird, ich würde Männer hassen, nur weil ich auch über die zahllosen patriarchalen Diskriminierungsformen gegenüber Frauen schreibe. Und ich berichte davon, wie mich die emotionalen Reaktionen von Männern auf meine Vision einer gleichberechtigten Welt bewegt haben, in der sie frei und ohne Geschlechtsidentitätsverlustangst über ihre Gewalterfahrungen sprechen können.
Das berührt mich immer noch. Seit vier Jahren treten Männer an mich heran und erzählen mir, wie sie wurden, wer sie sind. Wie man sie zugerichtet hat und wen sie zugerichtet haben. Warum sie sich verteidigen und worauf sie ein Recht zu haben glauben. Und ich versuche sie davon zu überzeugen, dass Freiheit womöglich besser ist als Privilegiengenuss. Dass es den Aufwand wert ist, sich in Freiheit zu setzen. Aber es ist und bleibt Schwerstarbeit. Genauer gesagt: Grabungsarbeit. Bei der Archäologie der Männlichkeitsgenese scheint der Ausgangspunkt für das, was einen Mann ausmacht, zumeist der gleiche zu sein:
Was muss ich tun, um zu bekommen, was ich will?
Es geht also von Anfang an um einen Aneignungsprozess, um eine Inbesitznahme. Beinahe zeitgleich setzt durch Erfahrungen von Desinteresse, Ablehnung oder gar Gewalt das sehr übliche Schutzprogramm ein:
Was muss ich tun, um nicht das aufgezwängt zu bekommen, was ich nicht haben will?
Männlichkeit gleicht darin einer belagerten Stadt: Sie versucht sich nach allen Seiten zu verteidigen und unternimmt zugleich Ausfälle, um sich in der Umgebung das zu holen, was sie tatsächlich oder angeblich braucht. Dieser Zustand hält eine lange Zeit an. Manche Männer überwinden ihn niemals. Andere kommen durch Lebenserfahrung, Midlifecrisis oder Hilfe irgendwann an den Punkt, wo sie sich fragen:
Ist es wirklich das, was ich will?
Sie nehmen Veränderungen vor, tauschen Lebensabschnittspersonal aus, wechseln den Job, die Kleidung, das Fahrzeug. Was nach einem großen Umbruch aussieht, ist eigentlich nur der Ausfall aus einer belagerten Stadt in eine andere Festung, die anschließend wieder belagert wird. Mann glaubt sie nur besser verteidigen zu können. Aber in dieser neuen Festung, in der mutmaßlich mehr Leben hinter ihnen liegt als vor ihnen, beginnen sich manche Männer zu fragen:
Welchen Preis musste ich für das bezahlen, was ich haben will?
Das ist eine gute, wichtige Frage, weil sie erstmalig eine systemische Komponente infrage stellt: Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt, den ich betreibe, um immer wieder durch Ausfälle Dinge hereinzuholen. Und daran anschließend:
Warum will ich eigentlich das, was ich haben will? Wofür brauche ich das?
Es ist die Frage danach, warum sie etwas glücklich und zufrieden macht. Sie ist positiv und zukunftsorientiert. Ihr Kern aber ist dunkel und furchteinflößend. Denn die Frage danach, warum wir etwas wollen, kreist um die Frage:
Warum tut mir etwas weh? Wieso macht mich etwas unzufrieden? Wo sitzt mein Schmerz?
Das nun ist endlich die Systemfrage: Was soll das mit diesem Belagerungszustand und warum muss ich mich verteidigen? Wer zur Hölle hat sich diese ganze Scheiße überhaupt ausgedacht? Wieso ist männliche Identität etwas, das gepanzert werden muss und warum müssen die Dinge, die ich brauche und begehre, in martialischen Ausfällen hereingeschafft werden? Mann könnte ja auch verhandeln. Sich nicht für berechtigt, sondern für interessiert oder gar bedürftig erklären. Aus der Beute und Preis Logik aussteigen. Frieden schaffen.
Erst wenn wir uns vollständig ausgegraben haben, können wir frei sein. Ob Männlichkeit „echtheitszertifiziert“ ist, ist daher nicht nur vollkommen unerheblich, sondern sogar schädlich.
Viel wichtiger ist, ob sie wahrhaftig ist. Womit wir am Ende dieses Fragekarussells sind und gleichsam wieder am Anfang. Denn es wäre zutiefst, nein, es ist zutiefst deprimierend, wenn wir diese Befreiungsreise aus den verschiedenen Männlichkeitszurichtungen allen Jungen zumuten. Frei von derlei Zurichtungen leben zu können, sollte keine Notwehrmaßnahmen erfordern. Wie wäre es stattdessen damit, dass wir alle miteinander verabreden, die Kampfhandlungen so weit wie möglich einzustellen. Dann könnten wir nämlich wirklich herausfinden, was es für Jungen bedeutet, Jungen zu sein.
Was es bedeutet, sie selbst zu sein.
Wenn wir von Frauen und Männern sprechen, beziehen wir uns auf strukturelle gesellschaftliche Rollen, die weiblich und männlich gelesene Personen betreffen. Gleiches gilt für die Adjektive “weiblich” und “männlich”. In Statistiken und Studien, die wir zitieren, wird leider oft nur zwischen Frau und Mann differenziert.
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Bildquelle: istock/gorodenkoff