Dass es im Kapitalismus eine Vielzahl von Produkten gibt, die eigentlich niemand braucht oder haben will und die trotzdem erfolgreich verkauft werden, ist keine Neuigkeit. Dass dies vor allem über Marketingstrategien funktioniert, die das Produkt an die Identität der Kundschaft binden und dabei zugleich ein künstliches Defizitgefühl kreieren, auch nicht. Trotzdem lohnt es sich, diesen Mechanismus mal an einem Beispiel durchzudeklinieren. Heute nehmen wir uns dafür die Desinfektionsmittelreihe Sagrotan vor. Und das aus gutem Grund: Sagrotan hat die Frau nämlich zur Hygienebeauftragten erklärt und versucht, stereotype Klischees so aufzupeppen, dass gar nicht mehr auffällt, worauf die Werbeaussagen basieren. Sagrotan gibt sich dabei total hip. Letzten Sommer unter anderem mit einer Kampagne, in der Kinder von großen Tieren beschützt werden, deren Einsatz mit dem Schutz einer Mutter verglichen wird. „Egal ob Mensch oder Tier, Mütter beschützen ihre Liebsten. Es liegt in ihrer DNA.“
Und die Mutter ist es auch, der sich Sagrotan andient. Nur der Mutter. Immer wieder. Seit Jahren.
Denn Sagrotan hat ein großes Problem. Es ist in gewöhnlichen Haushalten komplett überflüssig. Also in denen, an die es verkauft werden soll. Es existieren zahlreiche und ausführliche Studien darüber, dass die Anwendung von Desinfektionsmitteln im Haushalt keinerlei Vorteile gegenüber regelmäßigem einfachen Händewaschen hat. Im Gegenteil: Häufige Anwendung führt zu Hautirritationen, bakteriellen Resistenzen, erhöhtem Entzündungsrisiko und derlei mehr. Sagrotan tritt darüber hinaus mit einer Wirkbehauptung auf, deren Wahrheitsgehalt in einen Flaschendeckel passt. Der kleine Haken an der Aussage, es entferne „99,9 % der Bakterien“, besteht nämlich darin, dass die Wirksamkeit nur an vier gängigen Bakterienstämmen getestet wurde.
Sagrotan als Haushaltsdesinfektionsmittel ist also alles andere sinnvoll. Und weil die Verantwortlichen das wissen, setzen sie voll auf dieses nagende Defizitgefühl, das Werbung so gerne schürt, und kombinieren es mit einer ordentlichen Portion Panikmache.
Dass Sagrotan „beschützt, wenn es darauf ankommt“ und womöglich sogar „die Nummer 1 bei Ärzten ist“ mag sogar möglich sein. In der Küche kommt es aber nicht darauf an. Und im Wohnzimmer wird nicht am offenen Herzen operiert. Deshalb nimmt sich Sagrotan für seine Hygieneappelle Mutti so richtig vor:
Du bist verantwortlich, lass das nicht zu, es sind doch deine Kinder, die ganzen schlimmen Bakterien, was sollen denn die Leute denken, kümmere dich gefälligst, beschütze deine Familie!
Natürlich würde Sagrotan das heute so nicht sagen. Stattdessen werden Frauen – und nur Frauen – gefragt wie sie ihre Familie beschützen. Sagrotan gibt „schnelle Reinigungstipps für Mütter“. Dem Appell an die gute Mutter
folgt die erlösende Konsumaufforderung: „Lagern Sie Desinfektionstücher in jedem Raum.“ Mutti, immer wieder Mutti. Schon 1980 hat der Hygiene-Professor Franz Daschner darauf hingewiesen, wie bedenklich diese Desinfektionsappelle an Mütter sind. Seitdem hat sich nicht viel verändert: Papa sitzt am Tisch, Mutti putzt – „mit dem Duft von Sauberkeit“.
Fehlt eigentlich nur noch, dass Sagrotan alles säubert, weil es mit der Sauberkeitsformel sauber macht und aus 99,9 % Sauberkeit besteht. Oder wie soll das noch getopt werden? Ach so, ja: Indem man das Reinigen mittels eines Spülschwamms mit der Verwendung eines Hühnerschenkels zum Putzen vergleicht – was denn sonst?!
Die Frau ist für Sagrotan die Hygienebeauftragte – und sie ist es seit geraumer Zeit. Schon 1889 entwickelte die Firma Schülke & Mayr das Desinfektionsmittel Lysol – einige Jahre später folgte Sagrotan. Unter dem Dach der Firma Reckitt Benckiser bestehen die Marken bis heute und werden in unterschiedlichen Märkten getrennt voneinander eingesetzt. Dementsprechend lange reichen auch die Bemühungen zurück, die jeweiligen Produkte zu bewerben. 1960 sah das für Sagrotan zum Beispiel so aus:
„Als Frau möchte man unter keinen Umständen durch Körpergeruch Anstoß erregen … vor allem an den kritischen Tagen.“
Frauenhygiene also. Was man sich darunter vorstellen kann, hatten die Hersteller schon ein paar Jahrzehnte zuvor in den 20er und 30er Jahren sehr deutlich gemacht. Ab diesem Zeitpunkt wurde Lysol als Vaginaldusche vermarktet, die Infektionen und Vaginalgerüche verhindern sollte, um somit „Jugendfrische und eheliches Glück“ zu erhalten. Noch bis Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre wurde es darüber hinaus als Verhütungsmittel eingesetzt. Dem Umstand, dass einige Mediziner*innen von Anfang an auf Verletzungsgefahren, sowie ungewollte Schwangerschaften hinwiesen und sogar Todesfälle auftraten, begegnete man mit aggressivem Marketing:
„Sie war ein Juwel von Ehefrau mit nur einem Makel. Sie war dieser einen Vernachlässigung schuldig, die viele Ehen beschädigt.“
Es ging aber auch noch deutlicher:
„Eine geläufige, mitleiderregende Figur – die Ehefrau, die immer müde wird und vor allen anderen die Party verlässt. So oft ist es ihre Schuld. Einer Frau, die im Grunde bei guter Gesundheit ist, kann nicht vergeben werden, darin zu versagen ‚mit ihrem Mann jung zu bleiben‘. Experimentieren Sie nicht – lassen Sie sich nicht von falschen Theorien in die Irre führen – täuschen Sie sich nicht – nur ein Gift kann Bakterien töten.“
In der Geschichte des Konzerns liest sich das heute so: „Ausgehend vom Verkauf eines Universaldesinfektionsmittels, lag der Fokus der Marke in den ersten Jahrzehnten auf der persönlichen Hygiene der Frau. Über die Jahre weitete sich das Produktangebot auf die Oberflächenreinigung aus.“
Wenn das so ist, brauchen wir uns ja keine Gedanken zu machen. Hähnchenschenkel drüber und alles ist gut? Nichts da: Solange Sagrotan/Lysol Frauen auf die Rolle der Familienputzkraft reduziert und an sie qua Geschlecht überzogene Desinfektionsappelle richtet, solange werden wir solche Geschichten ausgraben. Dafür machen wir uns gerne die Hände schmutzig.
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