Literarisches Männleinwunder

Literarisches Männleinwunder

Eine Kolumne von Nils Pickert

Triggerwarnung: Im folgenden Beitrag werden die #MeToo-Debatte und sexualisierte Gewalt thematisiert.

Fassungslosigkeit – anders lässt sich der Zustand nicht beschreiben, den ich angesichts des medialen Dauerfeuers um ein Buch von diesem einen Typen erlebe, der auch schon früher Bücher geschrieben hat. Denn wenn man ein paar Jährchen im Medien- und Publikationsbetrieb auf dem Buckel hat, dann schälen sich allmählich ungeschriebene Gesetze heraus, an die man sich gefälligst zu halten hat oder man ist raus.
Zum Beispiel das Gesetz, dass man in Redaktionen nicht zu oft Themen zu diskriminierten und marginalisierten Gruppen anbieten darf, egal wie gesellschaftsrelevant sie auch sein mögen. „Och nee, wir hatten doch schon vor 6 Wochen was über Care Gap/Femizide/Rassismus/Schwarze Forscherinnen, ein Buch von einer Frau, das können wir echt nicht schon wieder machen.“ Oder wahlweise natürlich auch: „Zeitung xy hat das ja schon letzte Woche auf dem Titel gehabt, das geht jetzt wirklich nicht.“ Muss man wissen. Für derlei Themen ist das Maß irgendwann voll. Für bücherschreibende Frauen natürlich auch.

Für so ein literarisches Männleinwunder, gleich welchen Alters, gilt das hingegen natürlich nicht. Da werden rote Teppiche und Heftcover ausgerollt, als ginge es um etwas ganz, ganz Besonderes. Und das tut es natürlich auch, denn soeben ist DER deutsche #MeToo-Roman erschienen, den alle vorab besprechen, rezensieren, bewerben und am Ende natürlich kaufen sollen. Übrigens von einem literarischen Männleinwunder verfasst. Wie sollte es auch anders sein. Frauen haben sich leider noch gar nicht zur #MeToo-Debatte geäußert, nichts geschrieben und veröffentlicht, das irgendwie wert wäre, gelesen zu werden. Wie immer eigentlich. Ohne literarisches Männleinwunder geht alles den Bach runter und niemand würde erfahren, wie krass sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist. Was könnten Frauen auch schon darüber wissen?! Dafür muss schon ein Typ daherkommen, der jahrelang von einem sexistischen, menschenverachtenden System profitiert hat, um irgendwann dann zu merken „Ach guck, ist doch scheiße“ und das schließlich in einen Roman verpackt, bei dem dann die halbe Republik mit wohligem Schauern rätseln darf, was wahr ist und was erfunden.

Ein typengesponsertes Literatursudoku quasi. Geil. Sexualisierte Gewalt und andere Ekligkeiten gegen Frauen als Ratespiel in Buchformat. Ist für diesen oder jenen Machtmissbrauch nun ein wirklicher oder ein fiktiver Schmierlappen zuständig – Bleiben Sie dran, lesen Sie weiter, kaufen Sie das Buch!

Ich bleibe aber nicht dran. Von mir gibt es keinen Applaus für jahrelange „Undercover-Recherche“, an der man so viel Spaß hatte, dass einem erst hinterher einfällt, dass man diese profitable Zeit auch gegen die Beteiligten verwenden könnte.

Stattdessen lässt sich dieser Platz hier auch für sinnvollere Dinge nutzen. Auch wenn es natürlich sehr verführerisch ist, über literarische Männleinwunder zu sprechen (und in diesem Zusammenhang natürlich auch über mich, mich und vor allem auch mich), lässt sich durchaus über anderes schreiben.

Zum Beispiel über den exzellenten Roman „Das Licht ist hier viel heller“ von der Schriftstellerin Mareike Fallwickl, die nicht nur grandios schreibt, sondern gelegentlich geradezu prophetisch.

Oder über die neue Buchreihe, die bald im Rowohlt Verlag von Magda Birkmann und Nicole Seifert herausgegeben wird, mit der vergessene Autorinnen des 20. Jahrhunderts (wieder)entdeckt werden können.
Über wirklich gute Bücher zu dem wichtigen und immer noch völlig banalisierten und bagatellisierten Thema Femizide.
Man könnte wirklich etwas über die #MeToo-Bewegung lernen und in Erfahrung bringen wollen, statt sie lediglich als Aufhänger zu benutzen, um einen fiktionalisierten Blick in die Überreste der alten bundesrepublikanischen Medienlandschaft zu werfen.

Und wenn man sich tatsächlich für diesen Aspekt der Medienlandschaft interessiert, dann gibt es durchaus Möglichkeiten, sich hervorragend zu informieren.

Wir alle haben seit Jahren die Möglichkeit, den hörbar gemachten Stimmen von Opfern zu lauschen, fiktionalisierte oder fiktive Texte und auch Tatsachenbeschreibungen über das Thema #MeToo zu lesen. Es gibt Dokumentationen, Dissertationen, Gesprächsrunden, Comics, Podcasts, Kunstprojekte und mehr.
Trotzdem entscheiden wir uns mehrheitlich dagegen, all das auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn dagegen aktiv zu werden. Und es ist schon sehr bezeichnend, dass einmal mehr ein männlicher, welterklärender Blick jetzt die meiste Aufmerksamkeit bekommt.

So als hätte es all die anderen Stimmen nicht gegeben. So als wären die Arbeit, die Kunst und die Forschung von Frauen weniger wert. So als bräuchte es für „den großen #MeToo-Roman“ ein literarisches Männleinwunder.
Das tut es nicht. Wir entscheiden uns nur dafür. Wir wollen dafür ein literarisches Männleinwunder. Und je länger wir uns vor der Antwort auf die Frage drücken, warum wir das eigentlich wollen, umso unangenehmer und konsequenzloser bleibt die Situation. Bis es wieder Zeit wird, ungeschriebene Gesetze zu brechen und rote Teppiche auszurollen. Wegen dieses einen ehernen Gesetzes:

Komm rein, Kumpel, und mach es dir gemütlich. Du nicht, Schätzchen, eine muss schließlich den Kaffee holen.


Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen.

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Bildquelle: Pinkstinks Germany e. V.