Somewhere over the rainbow

 

Eine Petition in Baden-Württemberg, Ende November 2013 gestartet, hat innerhalb von fünf Wochen mehr als 40.000 Unterschriften erhalten. Worunter setzen so viele, so schnell, ihre Email-Adresse? Ein Aufruf zum Boykott der olympischen Winterspiele im homophoben Russland? Die Forderung, dass Frauen in der katholischen Kirche endlich Priesterinnen werden dürfen? Nein. Die Petition fordert, Kinder in Baden-Württemberg nicht einem Lehrplan auszusetzen, der sie über alternative sexuelle Orientierungen aufklären will. Die Petisten protestieren: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens!

https://www.openpetition.de/petition/online/zukunft-verantwortung-lernen-kein-bildungsplan-2015-unter-der-ideologie-des-regenbogens

Während die olympischen Winterspiele in Sotschi immer näher rücken, ohne dass sich vor Ort großartige Demonstrationen gegen Russlands Homophobie und Diskriminierung abzeichnen, scheint es auch in einem deutschen Bundesland ein Einfaches, Toleranz und Freiheit einen Stein in den Weg zu legen. Während man in Hamburg oder Bayern krampfhaft versucht, Unterschriften gegen das extrem leistungsorientierte G8 zu sammeln und dabei kläglich scheitert, bekommt man ohne Probleme massenhaft Signaturen gegen einen Lehrplan, der die Welt endlich so bunt zeichnet, wie sie ist. Die Reaktion: Mein Kind soll über die Sexualität von Lesben, Transsexuellen oder Bisexuellen aufgeklärt werden? Ja, sind die denn wahnsinnig?

Fast die Hälfte der Unterschriften stammt dabei nicht aus Baden-Württemberg: Die Angst scheint groß, dass sie rüber schwappen könnte, die Verseuchung durch die Anders-Liebenden. Der neue Lehrplan sieht vor, dass alle sexuellen Lebensstile in mehreren Fächern Präsenz finden. Die Gegenseite schimpft, dass die „negativen Begleiterscheinungen eines LSBTTIQ-Lebensstils“ nicht bedacht worden seien. So etwas wünscht man doch nicht seinen Kindern! Die höhere Suizidgefährdung unter homosexuellen Jugendlichen, die erhöhte Anfälligkeit für Alkohol und Drogen, die das Robert-Koch-Institut erforschte. Oder die auffällig hohe HIV-Infektionsrate bei homosexuellen Männern – davor muss man sie doch schützen!

Der wirkliche Grund, warum wie wild unterschrieben wird, ist sicher nicht die Angst vor Statistiken. Schon gar nicht, da eine breite Akzeptanz von LSBTTIQ-Identitäten ihrer Stigmatisierung als selbstmordgefährdete, depressive Alkoholiker entgegen wirken könnte. Die größte Angst macht der Lehrplan mit seiner scheinbaren Aussage, dass alle Lebensstile „gleich erstrebenswert und der Ehe zwischen Mann und Frau gleichzustellen“ seien. Großgütiger! Auch wenn man alle Menschen lieben muss, poltern die klerikalen Verfechter der Hetero-Norm, ist nicht „jedes Verhalten als gleich gut und sinnvoll anzusehen“. Eher müsste man Verantwortung zeigen und rausfinden, warum die armen Kinder schwul werden, und was man dagegen tun kann.

Wir starten gerade ins Jahr 2014. „Frohes Neues!“ fällt schwer zu wünschen ob dieser Meldung. Aber schon aus Trotz prosten wir euch zu, und versprechen: Wir tun auch dieses Jahr so viel wir können, um die Welt ein kleines bisschen bunter zu machen. Während wir Ferien machten, waren andere schon aktiv. Helga Hansen twitterte am 26. Dezember an Open Petition: “Im Petitionstext stehen Lügen bezüglich der Regierungsabsichten. Ihr lasst das stehen“, woraufhin Open Petition antwortete: „Wir haben die Kommission, die den Bildungsplan erstellt hat, um Fakten und eine Stellungnahme gebeten, bisher keine Rückmeldung.“ Die wird man in den Weihnachtstagen wohl auch kaum erwarten können – muss eine solch heikle Petition trotzdem im Netz bleiben? Helga Hansen kritisiert zu recht, dass Open Petition den Homophoben eine Plattform bietet und sich erst nach massivem Protest um Überprüfung des Inhalts der Petition und die diskriminierenden Kommentare kümmert, die längst hätten moderiert werden müssen. Open Petition bittet auf Betterplace.org gerade um Spenden für ihre Arbeit, sicherlich auch für die Finanzierung von Mitarbeiter*innen. Man darf monieren, dass sie sich übernehmen und ihre Inhalte nicht kontrollieren können.

Das Gefährliche an offenen Petitionsplattformen ist, dass sie nicht, wie Campact z.B., ausgewählte Umfragen für einen linkssozialen Wandel lancieren, sondern sich als demokratisches Forum verstehen, in dem jeder Petitionen einstellen kann. Gerade aber aus diesem Grund, dem Risiko, neben einer Petition zu stehen, die diskriminiert, haben wir uns gegen eine weitere Zusammenarbeit mit Change.org oder Open Petition entschieden. Und gleichzeitig hätten die Medien uns ohne unsere erste Petition, damals noch auf Change.org, nicht so schnell wahr genommen. Wie Facebook und Twitter sind die Petitions-Plattformen Fluch und Segen. Deshalb ist es umso wichtiger, weiter zu kritisieren, aufzuklären und genau hinzuschauen. Dafür danke an alle, die die Augen offen halten und dies weiter tun, laut werden, und sich auf Twitter und anderswo den aggressiven Kommentaren aussetzen. Und gleichzeitig wünschen wir Open Petition, dass sie selbst genauer hinschauen und genug Mitarbeiter*innen dafür finanzieren können.

Aber selbst bei genug Mitarbeiter*innen gibt es viele Fragen. Bei einer solch explosiven Petition muss vorher klar sein, ob das, wogegen protestiert wird, auch richtig dargestellt wird. Wie kann das garantiert werden? Der Petitionstext stellt subjektive, auf christlich-fundamentalistischem Glauben basierte Meinung als anerkannte Fakten dar. Freie Meinungsäußerung ist legal. Gleichzeitig verbieten sich Open Petition Polemik (Nutzungsbedingungen, Punkt 8). Wer bestimmt denn nun, ob dies Polemik ist? Demokratie und Hass-Sprache, wie sie in den Kommentaren benutzt wird, sollten sich ausschließen. Aber wann ist es Hass-Sprache, wann freie Meinung? Dafür braucht es klare Vorgaben. Punkt 3 der Nutzungsbedingungen ist schon mal nicht schlecht: Man darf nicht gegen sexuelle Orientierung diskriminieren. Ist nicht die biblische Vorgabe, verschiedene sexuelle Identitäten nicht als gleich gut und sinnvoll anzusehen, eine grobe Diskriminierung? Oder läuft das unter Meinungs- oder Religionsfreiheit? Es bleibt kompliziert. Sollte man, wenn man ein Petitionsportal aufbaut, sich Jurist*innen leisten müssen, die die Inhalte ständig kontrollieren und diese Fragen beantworten? Und wenn das nicht machbar ist, was ist die Alternative?

Glasklar ist hingegen die Botschaft der Petition: Wie die taz schrieb, macht sie uns bewusst, wie groß die Ablehnung gegen andere sexuelle Identitäten als die heterosexuelle in Deutschland ist. Und genau deshalb schreit sie sehr laut nach einer weiteren:

http://www.artikeldrei.de/argumente/gleichbehandlungsgrundsatz/der-erweiterte-art-3-gg-soll-kuenftig-heissen/

Noch immer ist Artikel 3 des Grundgesetzes nicht um sexuelle Identität erweitert worden: Es wird höchste Zeit.

Stevie Schmiedel

PS: Im Zuge der Debatte um die Petition und der Frage, was Open Petition darf und was nicht, zeigte sich wieder Twitters begrenzte Seite, eine vernünftige Diskussion zu ermöglichen. Hier lest ihr Katrin Rönickes (Die Featurette) Kommentar dazu.