Über Wanderhuren

 

ZEIT-Interview vom 15.03.2012

„DIE ZEIT: Frau Schmiedel, was ist eine Wanderhure?

Stevie Meriel Schmiedel: Keine Ahnung. Man sah sie jedenfalls in den vergangenen Wochen überall in der Stadt auf den Werbeplakaten von Sat.1. Ich nehme an, es ist eine Frau, die durch die Orte zieht und sich prostituiert.

ZEIT: Was für ein Problem haben Sie mit ihr?

Schmiedel: Durch die Druckschrift des Plakats kann jedes Kind aus der ersten Klasse das Wort »Wanderhure« lesen und fragen: »Mama, was ist eine Wanderhure?« Genau das ist mir passiert. Ich muss meiner achtjährigen Tochter erklären, was eine Prostituierte ist. Etwas früh, oder? Kinder assoziieren mit Sex, mit Liebe machen, etwas sehr Inniges, man erklärt es ihnen als etwas Schönes. Und nicht als etwas, für das Frauen sich bezahlen lassen, weil sich Männer befriedigen. Es ist ein Schock für Kinder.“

Dieser Ausschnitt aus einem Interview, dass ich der ZEIT zum Thema Leuchtlitfaßsäulen gab, wurde stark kommentiert. Ich sei prüde und realitätsfremd, wahrscheinlich auch gegen die Primarschule und eine offensichtlich unsympathische Frau. Ich muss gestehen: So liest sich das auch. Und habe daraus gelernt: Wenn etwas nur verkürzt und verzerrt wiedergegeben werden kann, lass es lieber ganz. Das Thema „Wanderhure“ war zu ausschweifend für dieses Medium.

Deshalb hier noch einmal „Wanderhure“ auf kompliziert:

Meine Tochter weiß natürlich, was eine Prostituierte ist – wir leben in Hamburg, und wenn wir durch die Davidstraße fahren, halten wir ihr nicht die Augen zu. Mit fünf wurde sie von einem Kita-Freund über „Huren“ aufgeklärt, und wir versuchten, an seiner Beschreibung noch etwas zu feilen: Das sind Menschen, die für Geld miteinander schlafen, und manche mögen den Beruf, und andere nicht so. Männer-Huren gibt es natürlich auch. Und oft tun es beide Geschlechter, weil man dafür keine teure und lange Ausbildung braucht. Aber es ist nicht immer schön, und manchmal auch doof.

Dass es gefährlich ist, haben wir ihr nicht gesagt. Oder dass längst nicht jeder wählen kann, ob er den Beruf annimmt. Dass besonders oft Frauen aus Not dazu gezwungen werden. Dass es in der Zeit, in der die Wanderhure spielt, eben hauptsächlich Frauen-Huren gab, und es denen sehr schlecht ging. Dass es der älteste Beruf der Welt ist, und dass es bis vor kurzem immer nur Männer waren, die die Macht und das Geld hatten, für Sex zu bezahlen. Männer, die Frauen versklaven, oder ihnen die Bildung vorenthalten konnten.

Für diese Themen fand ich gerade acht Jahre noch zu früh. „Die Rache der Wanderhure“ stand in Großbuchstaben auf fast jeder Leuchtlitfaßsäule (und bei uns gibt es sehr, sehr viele). Natürlich kann man einem Kind erklären: „Ach weißt Du Spatz, da ist einer Hure die Kutsche kaputt gemacht worden, und jetzt sucht sie den Täter.“ Die sind doch viel zu schlau. „Warum muss sie sich rächen? Warum geht die nicht einfach zur Polizei?“ Weil sie eine persona non grata ist. Keine Gewerkschaft, keine Rechte. Abschaum. Und dann sind wir bei der Wahrheit. Nichts mit angesehenem Beruf.

Ich habe den Traum von einer Welt, in der mein Kind ihre eigene Geschlechtsidentität festigen kann, bevor sie versteht, dass es Frauen gibt oder gegeben hat, die nur, weil sie Frauen sind, in Gefahr leben. Bevor sie merkt, dass wir das zweite Geschlecht sind, und bibeltreue Christen das theologisch begründen. Dass die Sprache ehemals von und für Männer gemacht wurde. Natürlich sind wir heute mit gemeint. Natürlich gibt es hoffentlich bald eine Quote. Natürlich haben wir heute gleiche Chancen, und kein Ehemann darf mehr darüber bestimmen, ob seine Frau arbeiten darf oder nicht.

Starten wir denn wirklich mit gleichen Chancen? Wenn den Mädchen auf jeder Litfaßsäule gezeigt wird, wo wir herkommen, und wogegen wir kämpfen müssen? Wenn wir weiterhin niedlich und pink sein sollen? Wenn Lara Croft schnuckelig „autsch“ quietscht, wenn sie im Computerspiel gegen die Wand läuft? Wie viel Mut müssen wir aufbringen, kräftig und laut zu sein, was medial gleichbedeutend ist mit „nicht anerkannt“? Die Wanderhure kann sich nur in bezauberndem Kleid und mit freier Schulter rächen. Die neue Disney-Figur Merida, die von der Webseite Redefine Girly trotz ihrer Disney-Aversion als starkes alternative role model gefeiert wird, wird im Merchandising zur niedlichen Barbie.

Es ist ein bisschen, wie wenn man Kindern die deutsche Sprache erklärt. Warum sind in der männlichen Form Frauen mit gemeint? „Weil Mensch und Mann lange gleichgesetzt wurde, die Frauen wurden erst später wichtig. Was zählt, ist, dass sie heute mit gemeint sind, und deshalb kommt auch keiner auf die Idee, die Sprache umzuschreiben.“ Ganze neue Rechtschreibsysteme werden verfasst, aber keine inklusive Sprache. Und trotzdem fragt jedes Kind irgendwann in seiner Zeit: „Warum sagst Du die Lehrer, ich habe doch eine LehrerIN!“ Schwupps, fühlt er oder sie die Historie, genau wie man einem Kind mit der Wanderhure nichts vormachen kann.

Ich fange langsam an, mit meiner Tochter über unsere Geschichte zu sprechen, und es fällt mir echt schwer. Es ist, als wenn ich sie hängen lassen würde. Nein, es ist nicht, wie zu sagen, den Weihnachtsmann gäbe es nicht. Damit kommen sie klar. Das andere Thema wird sie von nun an immer begleiten – und dafür kann es für mich nicht spät genug sein.