Das Rückgrat der Gesellschaft

Schulsachen durchsehen. Kinder betreuen. Kochen. Abräumen. Wochenplanung. Abendprogramm. Putzeinsatz um 22 Uhr, damit die Küche am nächsten Morgen nicht so aussieht, als hätte man 8 Salven aus Farben und Gerümpel auf sie abgefeuert. Und das ist nur die kleine Tour. Das sind noch keine Notfälle wie eine kotzende Sechsjährige, ein albträumender Achtjähriger oder ein verzweifeltes Großkind, das „irgendwie“ die mehrstündige Klausur am nächsten Tag vergessen hat.
Das sind so in etwa die Arbeitsaufgaben, die meine Lebenskomplizin abräumen muss, damit ich abends irgendwo in Deutschland auf einer Bühne stehen oder sitzen kann, um aus meinen Büchern zu lesen oder Vorträge zu halten. Falls An- und Abreise so lange dauern, dass ich über Nacht bleiben muss, kommen viele weitere hinzu. Kinder morgens in die Gänge bekommen, um sie pünktlich auf alle Bildungseinrichtungen zu verteilen, zum Beispiel. Und dann trotzdem noch rechtzeitig ins Büro kommen. Uuuh, ein Kind ist krank. Huch, die Nachmittagsbetreuung fällt aus, weil sie komplett unterbesetzt ist. Gehen Sie nicht über Los. Ziehen Sie eine „Heute extra Care-Arbeit, haha, was hast du denn gedacht?!“-Karte.

Wenn ich auf besagten Bühnen sitze oder stehe, interessiert sich kaum jemand dafür, was in meinem Rücken alles stattfinden muss, damit ich überhaupt anwesend sein kann. Und das, obwohl die meisten wissen, dass ich vier Kinder habe und ich seit Jahren darüber schreibe, wie befremdlich es ist, dass sich an dieser Konstante in meinem Leben seit fast zwei Jahrzehnten nichts geändert hat: Sobald meine Lebenskomplizin das Haus verlässt, zischt es ihr aus allen Ecken entgegen, was denn mit ihren Kindern sei. Wo sind deine Kinder, Frau, du bist doch Mutter? Mich fragt niemand. Alle gehen davon aus, dass ich in ausreichendem Maß über die Ressource „kümmernde Frau“ verfüge, um mich beruflich und privat frei bewegen und entfalten zu können: Mutter, Oma, Erzieherin, Lehrerin, Betreuerin, Tante, Nachbarin – irgendeine Frau wird schon für meine Kinder zuständig sein, während ich ein bisschen was über Gleichberechtigung erzähle.

Wenn ich sage, dass sich nichts verändert hat, stimmt das natürlich nicht ganz. Heutzutage sprechen sich selbst konservative Menschen sehr viel seltener offen dafür aus, dass Care-Arbeit Frauensache ist oder Frauen an den Herd gehören. Derlei offen frauenfeindliche Aussagen werden heutzutage verkoffert. Man verschalt sie mit ganz allgemeinen Aussagen und stellt sie so auf den Marktplatz der Meinungen und Ideen ab. Wenn dann jemand vorbeikommt und wissen will, was das denn nun wieder für ein Unfug sei, tut man ganz unschuldig. Schließlich hätte man ja nur gesagt, dass die Gesellschaft mehr „Bock auf Arbeit“ brauche.

So jedenfalls formuliert es der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Steffen Kampeter. Außerdem ist ihm wichtig zu betonen: „Eine gute Work-Life-Balance bekommt man auch mit 39 Stunden Arbeit in der Woche hin.“ Darüber hinaus beklagt er die Rente mit 63 als „offenkundige Fehlleistung der Politik“. Das ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. So war Kampeter von 1990 bis 2016 Bundestagsabgeordneter der CDU – also der Partei, die zusammen mit der SPD 2014 die Option auf abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren beschlossen hat. Zudem liegen erste Studienergebnisse vor, die belegen, dass die 32-Stunden-Woche ein „voller Erfolg“ ist. Unternehmen, die die Viertagewoche eingeführt haben, zeigen sich hochzufrieden mit Leistung, Produktivität und Gesamterfahrung.
Und dann ist da noch der Umstand, dass Kampeter verheiratet ist und drei Kinder hat.

Er steht und sitzt also auf Bühnen, in Büros, im Bundestag oder auf Empfängen, während „jemand“ sich um seine Kinder kümmert. Es steht mir nicht zu, darüber zu spekulieren, wie das genau vonstattengegangen ist. Aber um das Geschlecht dieses „jemands“ zu erahnen, braucht es keine prophetische Gabe.

Kümmern ist keine Nebensache. Fürsorge ist kein Hobby. Care-Arbeit ist kein Bonuslevel. Und „das bisschen Haushalt“ macht sich auch nicht von allein. Diese Dinge sind von zentraler Bedeutung für die Existenz jeder Gesellschaft. Menschen, die diese Tätigkeiten verrichten, sind das Rückgrat der Gesellschaft. Sie sorgen buchstäblich und im übertragenen Sinn dafür, dass wir alle überhaupt irgendwo sitzen und stehen können, um andere Arbeiten zu verrichten. Und in den meisten Fällen sind Frauen dieses Rückgrat. Frauen, von denen qua Geschlecht erwartet wird, sich zu sorgen, sich zu kümmern und zu pflegen. Frauen, die an den Herd und in die Kinderbetreuung sollen, ohne, dass man sie dafür ausreichend entlohnt und wertschätzt. Männer wie ich haben die Hände frei, weil Frauen nach wie vor aufgefordert sind, ihnen das Kümmern aus den Händen zu nehmen. Männer wie ich sind carefree, weil sich in unserem Rücken Frauen mit der Care-Arbeit beschäftigen. Und dann kampetern wir Sätze hin wie

„Eine gute Work-Life-Balance bekommt man auch mit 39 Stunden Arbeit in der Woche hin.“

obwohl eigentlich klar sein sollte, dass unsere „39 Stunden Arbeit in der Woche“ Karriere nur möglich ist, weil Frauen für die Work-Life-Balance schuften, über deren geputzten Flur wir nach Hause kommen, um uns an ihren gedeckten Tisch zu setzen und über ihren tröstenden, beschulenden, versorgenden Kopf zu streicheln. Wir sind nicht gleichberechtigter, weil wir als ultramoderne, politisch korrekte Männer darauf verzichten, frauenverachtende Sprüche zu klopfen. Wir werden gleichberechtigter, wenn wir uns korrekt benehmen. Und dazu gehört, sich offen und ehrlich die Frage zu stellen:

Wer trägt eigentlich Sorge dafür, dass ich mich hier karrieretechnisch entwickeln kann? Dass ich meine Freizeit so gestalten kann, wie ich möchte?
In diesem Sinne: Heute ist Equal Care Day und den braucht es auch.

Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen. Wenn wir die Adjektive „weiblich” oder „männlich” benutzen, beziehen wir uns ebenfalls auf die stereotypische gesellschaftliche Verwendung der Begriffe.

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Bildquelle: Kaan Sezer istock