Ich erinnere mich, wie ich bei einem Alpenurlaub auf einem einsamen Wanderpfad um eine Ecke bog und auf einmal vor einem voll verhüllten Wesen stand. Meine Kinder schrien auf, ich hatte Angst. Mein Kopf kam nur langsam hinterher: Eine Burka sieht man in Deutschland und Österreich extrem selten. Die Dame senkte den Kopf, ihr Mann sah zu Boden, die beiden gingen auf dem schmalen Pfad an uns vorbei. Es war mir unglaublich peinlich.
Und trotzdem war da der Gedanke: Warum erschrecken die uns auch so? Das Ganze ist viele Jahre her. Ungefähr zu der Zeit, zu der mir bei Besuchen in London erstmals die vielen Niqab-Trägerinnen auffielen, saudi-arabische Touristinnen, die im Sommer in Kleingruppen durch Knightsbridge flanieren, mit schicken Tüten von Gucci und Prada über dem Arm. Wenn ich mir bei Harvey Nichols Fifth Floor-Cafe einen Kaffee gönnte, beobachtete ich sie oft heimlich um zu sehen, wie geschickt der Schleier gelüftet wurde um Sandwich-Häppchen, Juices oder Kaffee zu sich zu nehmen. Dabei wurde angeregt geschwatzt, auf dem Handy gesurft und den Freundinnen gezeigt, was man erworben hatte. Nicht anders, als bei „uns“. Das verwirrte mein Bild von „denen“.
Seit letzter Woche fordert die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes ein Verbot der Vollverschleierung in Deutschland. Als Begründung steht in der Erklärung unter anderem: „Gerade durch die Vollverschleierung werden die simpelsten Formen des sozialen Zusammenlebens, wie zum Beispiel ein gemeinsames Essen, das Trinken eines Kaffees im öffentlichen Raum, unmöglich.“ Burkaträgerinnen, so lautet der Text, hätten die Autorinnen noch nie getroffen, und das „soll auch so bleiben“. Ob sie Niqab-Trägerinnen kennen, erwähnen sie nicht.
Ich habe Verständnis für viele Sorgen und Verbotsideen, die aus dieser Sorge heraus formuliert werden. Auch ich habe im Bezug zur Vollverschleierung verschiedene Stadien durchwandert, zu denen auch die Angst gehörte, der Islamismus würde uns alle verschlingen und jede zwingen, Burka zu tragen (Ich war Anfang 20 und hatte gerade „A Handsmaids Tale“ von Margaret Atwood gelesen). Das Positionspapier von Terre des Femmes liest sich so wenig informiert, dass ich ihnen sowie der 20-jährigen Stevie vorschlage, a) zunächst mit vollverschleierten Frauen ins Gespräch zu kommen
um seinen eigenen Vorurteilen konstruktiv zu begegnen, und b) klare Definitionen und Unterscheidungen zwischen Burka, Niqab, Abaya und Hijab zu liefern, oder einfach auf diesen brillianten Text von Kleinerdrei zu verweisen. Dann könnte man c) in andere Länder schauen um zu fragen, ob ein „Burkaverbot“, womit ein Verbot der Vollverschleierung, also auch Niqab, gemeint ist, Sinn macht, um Frauen vor Bevormundung und Herabwürdigung zu schützen.
In Frankreich wurde das öffentliche Tragen von Niqab oder Burka schon 2011 verboten, mit einer Erklärung, die auf weltanschauliche oder religiöse Begründungen verzichtet und auf die öffentliche Sicherheit hinweist: Somit sei es „verboten, in der Öffentlichkeit sein Gesicht zu verhüllen“. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bestätigt, dass es sich bei dem Verbot nicht um Diskriminierung religiöser Minderheiten handeln würde, da es lediglich „die Bedingungen des gesellschaftlichen Miteinanders“ formuliere. Gleichzeitig blieb aber Künstler*innen erlaubt, ihr Gesicht auf Straßen zu verhüllen.
Der Spiegel schrieb im letzten August, dass das französische Gesetz gegen Vollverschleierung einen „legalen Deckmantel“ bietet, muslimische Frauen anzupöbeln. Ressentiments und übergriffiges Verhalten gegen muslimische Frauen seien seit dem Verschleierungsverbot stark angestiegen. Vor allem sei es nicht effektiv: Frauen würden eher Geldstrafen (um die 150 Euro) riskieren, um nicht auf ihren Niqab zu verzichten. 30.000 Euro Strafe zahlt ein Mann in Frankreich, der eine Frau zwingt, sich zu verhüllen – eine solche Strafe scheint berechtigt und noch zu niedrig, auch, wenn die Tat schwer nachzuweisen ist. Es wäre natürlich hervorragend, ein solches Gesetz auf deutsche Banken auszuweiten, die ihre Mitarbeiter*innen zwingen, eine bestimmte Rocklänge zu tragen.
Der Fokus auf die Verschleierte, nicht auf den Verschleiernden, erinnert leider an die Debatte, die heute im Bundestag toben wird: Die zwischen Befürwortern des neuen Prostitutionsgesetzes (z.B. des Meldegesetzes) sowie denjenigen, die darin eine Diskriminierung von Sexarbeiter*innen, nicht ihren Schutz sehen. Während die Sexarbeiterin, die sich aus Angst vor Stigmatisierung in ihrer Gemeinde nicht beim Amt als solche anmeldet, illegalisiert wird (vielleicht mit der Hoffnung, dass sie das Gewerbe lieber aufgibt), wird mit dem französischen Gesetz die Muslimin straftätig, die sich kleidet, wie sie möchte oder muss, mit der Hoffnung, sie möge diese Kleidung aufgeben. In beiden Fällen geht es also darum, Frauen zu entmutigen, etwas zu tun, was nicht gerne gesehen wird: Die Hure auf der Straße, die verschleierte Frau in der „deutschen Heimat“. So funktioniert diese Welt aber nicht. Selbst, wenn wir davon ausgehen, dass mehr Sexarbeiterinnen durch ihre berufliche Tätigkeit belastet sind als sie mit purer Freude ausüben, selbst wenn wir Fälle kennen, in denen Musliminnen unter den Schleier gezwungen wurden, können nicht die Frauen selbst in die Verantwortung genommen werden. Außerdem hat Zwang in beiden Fällen relative Abstufungen: Im Fall von Prostitution ökonomischer Zwang, in Fall von Vollverschleierung religiöse Identität. Absolut herabwürdigend sind, auf jeden Fall, Annahmen, was diese Frauen in Gänze können oder nicht können, denken oder nicht denken. Dazu sind Menschen – und zwar alle! – viel zu vielfältig.
Liebe Sorgende, ich bin sicher: Einige dieser Muslim*innen können Kaffee durch den Schleier trinken. Sie können sogar selbst entscheiden, handeln und bestimmen, wie Feminismus für sie aussieht und aussehen wird. Es gibt wunderbare muslimische Islamwissenschaftler*innen, die aus dem Koran heraus Frauenrechte artikulieren und es gibt muslimische Aktivistinnen, die diese verbreiten.
Vor allem – tataa – können diese z.B. über unsere Vorurteile lachen. Zum Glück.
Fazit: Nötigung und Drangsalierung von Frauen gehört verboten. Nicht ihre Kleiderwahl.
Stevie Schmiedel