Lieber Spiegel-Redaktion: Danke, dass ihr gegen diese miesepetrigen Mütter da draußen, die jammern, dass ihre Kinder nicht zur Schule können, ein Zeichen setzt. Da muss ja mal was gesagt werden, und ihr tut es! „Kinder in der Coronakrise: Viele sind selbstständiger geworden“, ist heute euer Spiegel-Plus-Aufmacher, und auch die letzten Wochen habt ihr uns immer wieder erfreut, dass ihr die positive Seite am „Distanzunterricht“ beleuchtet: „Bildung in der Coronakrise: Wie lange waren die Schulen wirklich geschlossen?“ (Ey komm, die paar Wochen!). Ihr beleuchtet den „Zwang“ zum Schulbesuch für die, hin „müssen“, und wenn ihr von Infektionsherden sprecht, nennt ihr Schulen vor Arbeitsplätzen. Und gut, dass ihr auch mal anmerkt, wer die wirklichen Luschen sind: „Burn-Out, Erschöpfung, Depression: Wie uns das Homeoffice kaputtmacht“. So was gibt es bei den Jugendlichen, die jetzt noch zu Hause sind, nämlich gar nicht. Na also!
Ich bin keine Corona-Leugnerin, im Gegenteil: Ich habe einen höllischen Schiss vor dem Virus. Ich isoliere mich mit der Familie seit Monaten, wenn ich mal eine Freundin treffe, dann die, die das auch tun, und nur mit Selbsttest. Entschuldigt meinen ironischen Ausbruch, aber ich bin kurz davor, mein Spiegel-Abo zu kündigen. Ich halte nur noch daran fest, weil ich mich über alle anderen Themen dort gut und breit informiert fühle. Aber was Schüler*innen betrifft, kickt ihr bei mir täglich – und zwar seit einem Jahr – die Cortisol-Latte so hoch, dass ich kurz davor bin, zur BILD zu wechseln. Scherz. Aber mein Verständnis für jene, die das tun, ist gewachsen.
Ich habe zwei Kindern an zwei verschiedenen, weiterführenden Schulen in einem der kinderreichsten und mit Schulen dicht besiedeltsten Stadtteilen von Hamburg. Ich bin ein sozialer Mensch und kenne sehr viele Eltern dort. Ich weiß, dass – was vorher schon knapp war – es jetzt überhaupt keine Therapieplätze mehr für Kinder gibt. Alleine in meinem Bekanntenkreis sind die Fälle von Essstörungen, Angstanfällen, Depressionen und vor allem unter Mediensucht leidenden Jugendlichen gefühlt exponentiell angestiegen. Es macht mir SORGEN. Was bleiben da für Langzeitschäden? Wie sollen diese Kinder diese Lücke in ihrer Biografie im Laufe ihres Lebens auffangen? Es ist nicht nur eine Bildungslücke. Es ist eine Lücke an Sozialkontakten, altersgerechten Entwicklungen, Alltagsbewältigungsstrategien in vollgepackten Schultagen, in denen auch noch soziale Herausforderungen gemeistert werden müssen. Und ja, mein Gott, eine andere Generation hat Krieg erlebt! Ich spreche Menschen, die ihn erlebt haben, die sagen: „Wir haben uns im Bunker umarmt, zusammen gesungen, heimlich zwischen den Trümmern geknutscht. Das kann man nicht vergleichen.“ Das sind andere Formen von Belastung.
Was hier gerade passiert, ist Kindeswohlgefährdung. Um im AstraZeneca-Modus zu sprechen: Der Nutzen überwiegt nicht den Schaden. Auch wenn jedes 1000. Kind das Pims-Syndrom bekommt, durch Selbsttests aber viel weniger Kinder infiziert werden, rechnet sich das nicht. Wir haben Selbsttests, wir haben sogar (endlich!) Zwang zum Selbsttest. Die Schulen sind übrigens nicht „auf“. In Hamburg gehen seit dem 8. März 2021 nur knapp die Hälfte der Kinder zur Schule, der Rest sitzt zu Hause und hat oft keine Motivation mehr. Machen ihre Bildschirme nicht mehr an. Kommen schon lange nicht mehr mit. Essen – voll selbstständig! – seit einem Jahr jeden Mittag Tiefkühlkost. (Wenn auf diese Kolumne auch nur ein Tipp kommt, wie ich meinen Kinder Gemüsekochen beibringen kann, beiße ich in die Tischkante. Meine Kinder können Gemüse kochen. Sie tun es nur nicht.) „Wozu soll ich mich denn noch anstrengen?“, sagte neulich ein Mädchen zu mir. Genau, wozu auch – wenn die Jugendlichen in den Medien überhaupt nicht vorkommen. Wenn, anstatt ihre Not ernst zu nehmen, nur in ein paar Nebensätzen auf ihre Bedrohung durch die Pandemie hingewiesen wird. Weil – warum genau? Weil „Schulen auf!“ für die nicht wichtig ist, deren Kinder nicht ADHS haben, gut im Home-Schooling klarkommen, es so schön finden, dass man „als Familie mal Zeit miteinander hat“, oder deren Kinder nicht in einem Alter sind, in dem Abhängen mit den Eltern pures Gift ist für sie (und ihre Eltern!).
Wenn diese Katastrophe nicht angesprochen wird, fühlen sich Menschen nicht mehr ernst genommen, vor allem nicht von den Medien, die sich sonst und lobenswerter Weise sehr bemühen, in verständlicher Sprache komplexe Inhalte in ausgewogener Berichterstattung an eine breite Bevölkerung zu bringen – wie der Spiegel. Deshalb, händeringend, bitte: Berichtet über jene, die keine Nannys oder hochbegabte Kinder zu Hause haben. „Burn-Out, Erschöpfung, Depression: Wie Corona Jugendliche kaputt macht“, ist die Schlagzeile, die ich bei Spiegel-Online erwarte. Auch, wenn es todtraurig ist. Wir halten todtraurig eher aus, als ein so-tun, als ob die Kids klar kommen. Weil wir wissen, dass es nicht so ist. Und dann, bitte, möchte ich einen ehrlichen Bericht, der mir erklärt, warum Schulen nicht für alle aufgehen, dafür Home-Office-Pflicht oder ein verschärfter Lockdown für die Wirtschaft gefordert werden kann. Mit Lüftungsgeräten, Selbsttests und Kids first. Denn die Kosten, die diese Lücken dem Gesundheits- und Sozialsystem verursachen werden, werden riesig. So, jetzt habe ich es wenigstens einmal gesagt. Spiegel-Redaktion: jetzt bitte du.
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