Screenshot Gillette

Macht uns Gillette alles kaputt?

Ich hätte heulen können, als ich heute Morgen auf YouTube die Klickzahlen für den aktuellen Gillette-Spot checkte. Fast 10 Millionen Aufrufe in drei Tagen, davon nur eine Viertel Million Likes, über eine halbe Million Dislikes. Der Spot, der in aktueller „Haltungsfilm“-Manier toxische Männlichkeitskonzepte kritisiert und viele moderne Männer und Frauen begeistert, erntet den Shitstorm der Werbegeschichte. Gestern erschien alleine in der deutschsprachigen Presse stündlich ein Kommentar dazu, weltweit wird wild diskutiert: Hilft oder schadet der Spot nun dem Feminismus? Und geht Gillette-Hersteller Procter&Gamble (P&G) jetzt bankrott?

Die renommierte Werbefachzeitschrift „Werben und Verkaufen“ schreibt heute Morgen, dass P&G die Kritik vorausgesehen hatte und zitiert den Nordamerika-Markenverantwortlichen Pankaj Bhalla: „Wir haben die Debatte erwartet. Eigentlich ist eine Diskussion nötig. Wenn wir nicht darüber reden, glaube ich nicht, dass sich etwas ändern wird“. Wenn der Spot aber wirklich gegen Sexismus sensibilisieren will, sei das Vorgehen ungünstig, schreibt das Forbes-Magazin. Eine Psychologin erklärt hier, dass man mit einem moralischen Appell Leute selten von einer Meinung abhält. Gillette hätte sich lieber auf die Darstellung eines modernen Männerbildes als Vorbild beschränken sollen um Wandel anzustoßen.

Den Forbes-Artikel fand ich verlinkt in den News-Feeds vieler Portale, die ich frequentiere und war erstaunt, wie diese psychologische Analyse kritiklos übernommen wurde. Dass der Appell „Klau nicht – zu viele Menschen klauen“ nicht funktioniert, kann man sich vorstellen. Klauen ist etwas, das moralisch verwerflich ist und „Tu das nicht! Das ist böse!“ kann leicht Trotzreaktionen bewirken. Bei toxischer Männlichkeit geht es aber um eine Haltung, die nicht nur anderen schadet (z.B. Frauen) sondern besonders Männern selbst. Das deutlich zu machen, darauf zielt der Spot ab. Es sind die geliebten Söhne, die prügeln lernen und selbst Prügel einstecken müssen, weil man noch immer meint, dass „Jungs nun mal Jungs sind“. Deshalb sollten wir traditionelle Männlichkeitskonzepte hinterfragen. Weil es Männer sind, die sich „Schwächling!“ anhören müssen, wenn sie nicht durchtrainiert und erfolgreich sind. Weil Männer einen schlechten Ruf bekommen haben – als gewalttätig und übergriffig, obwohl nicht alle Männer so sind. All das ist ungesund und Männer „verdienen“ mehr – eben das „Beste im Mann“. Wenn man dem Hashtag #MenAreTrash des letzten Sommers noch vorwerfen konnte, diese Argumentationslinie (auf werberisch „Storytelling“) auf 12 Zeichen nicht ausreichend transportiert haben zu können, hat Gillette hier einen guten Job gemacht.

Es gibt Unterschiede zwischen individueller Schuld und der Kritikwürdigkeit eines Konzeptes, in das man hinein sozialisiert wurde.

Aber große Teile unserer Gesellschaft sind noch nicht bereit, diese Verdichtung des komplexen Problems auf zwei Minuten Videozeit aufnehmen zu können. Das liegt an toxischer Männlichkeit an sich: Unverwundbar zu sein heißt eben auch, nie gelernt zu haben, dass Individuen keine abgeschlossenen Entitäten sind. Es gibt Unterschiede zwischen individueller Schuld und der Kritikwürdigkeit eines Konzeptes, in das man hinein sozialisiert wurde. Ich selbst begegne diesem Phänomen oft, wenn ich zu #MeToo doziere. Ein Tontechniker in einem großen Medienhaus sagte mir neulich wütend, warum er denn nachts die Straßenseite wechseln solle, wenn in einer dunklen Gasse eine Frau genau vor ihm ginge. Er sei doch kein Vergewaltiger! Und privilegiert schon gar nicht! Und richtig – im Gegensatz zu seinen gutverdienenden Vorgesetzten hat er das Nachsehen. Dass er zu einer Gruppe gehört, die statistisch gesehen sehr viel seltener sexualisierte Gewalt erlebt und leider die meisten Täter dieser Form von Gewalt stellt, darf ihn auch wütend machen. Trotzdem privilegiert diese Zugehörigkeit in der Form, dass er eben keine Angst haben muss, vor einer Frau eine dunkle Gasse entlang zu gehen. Als ich dies ausführte, entspannte sich der Mann. Er war nicht schuld. Er konnte aber etwas tun, um zu helfen und als Vorbild für die Gruppe zu dienen, der er sich zugehörig fühlte.

In der #MeToo-Debatte und der Auseinandersetzung um Privilegien und Männlichkeit ist es unfassbar wichtig, vorsichtig vorzugehen, um Männer nicht zu verprellen, sondern mitzunehmen. Die einzig ungünstige Szene sehe ich beim Gillette-Spot in einer Reihe grillender, durchweg muskulöser Männer, die als Chor „Boys will be boys“ predigen. Sie stehen als Vollpfosten neben den eher wenig gestählten Männern, die Jungs retten und sorgende Väter sind. „Was ist an Grillen verwerflich?“ fragte ein Twitter-User, der sich angegriffen fühlte. Dass grillende Männer als steinzeitliche „Herren des Feuers“ das Männlichkeitsklischee per se darstellen, dass viele Männer zu viel Fleisch essen und meinen, nicht kochen zu können (nur grillen), dass das für Männer ungesund und für viele Frauen ungünstig ist, dass Grillen mit Grobschlächtigen und Kochen mit Feinfühligkeit – auch für sich selbst – gleichgesetzt wird und dass das alles letztendlich für den Mann bedeutet, sich weniger um sich selbst zu kümmern und fünf Jahre früher als Frauen zu sterben: Für all das braucht es tatsächlich eine akademisierte Haltung zu toxischen Männlichkeitstheorien und kann nicht in zwei Minuten transportiert werden. Ob der Film genau darüber eine Debatte lostreten kann? Oder wurde die Möglichkeit dazu durch den Film verhindert?

Gillette wird den Film nicht zurückziehen und am Thema dranbleiben, mit einer Million Spendengelder an Organisationen, die sich neuen Männlichkeitsbildern verpflichten und in Deutschland mit einer Webseite, die ihre Vorschläge zu neuen Männerbildern verstetigt. Es wird P&G nicht ruinieren, im Gegenteil. Lasst uns die Wut im Netz aushalten als das, was sie ist: Ein Erinnern, dass auch Frauen traditionelle Weiblichkeitskonzepte nicht über Nacht über Bord geworfen haben, sondern noch lange verteidigen mussten und viele es noch immer tun. Dass diese „Männerrechtler“, die sich jetzt versammeln, um Gillette zu disliken, in ihrer verzweifelten Verteidigung ihrer erlernten Identität für uns männliche Gewalt darstellen, ist ein Problem. Es macht aber sichtbar, wo wir stehen: An einem Punkt, an dem wir dringend informieren müssen. Mit Geduld, Atmung und Unterstützung der Medien.

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