Das Harry-und-Sally-Syndrom

Es gibt Dinge, die wollen einfach nicht in meinen Kopf rein. Zum Beispiel diese elende Romantisierung von freundschaftlichen Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen. Ich nenne das „elend“, weil es früher oder später dazu benutzt wird, gegengeschlechtliche Freundschaften infrage zu stellen und Rechtfertigungen zu verlangen, die belegen, dass die Betreffenden „nur miteinander befreundet sind“.

Das hat schon bei meinen großen Kindern genervt und ist aktuell bei meinem Dreijährigen immer noch ein Ärgernis. Der hat in seiner Kita glücklicherweise nicht nur Freunde sondern auch Freundinnen gefunden. Allerdings werden seine Beziehungen zu Mädchen grundsätzlich anders gewertet. Das sind Einübungen in romantische Liebe. Obwohl die Kinder untereinander auch gleichgeschlechtlich Zuneigung und Interesse bekunden, scheint es fast so, als würde eine heterosexuelle Konstellation zwischen Jungen und Mädchen geradezu belauert. Und am Ende steht dann das Harry-und-Sally-Syndrom.

Jene Doktrin also, nach der Männer und Frauen nicht befreundet sein können, weil ihnen immer der Sex dazwischen kommt. Und wenn sie doch miteinander befreundet sind, dann nur, weil sie in festen Beziehungen stecken und/oder das Sexuelle komplett vom Tisch ist. Michael Nast, der Autor des Bestsellers Generation Beziehungsunfähig, verstieg sich bei diesem Thema kürzlich tatsächlich dazu, Männer als schwanzgesteuerte Opfer ihrer eigenen Triebe zu charakterisieren.

Sklaven ihrer Instinkte also? Ich weiß nicht, wie lange ich mir solchen und ähnlichen Unfug schon anhören muss, aber es reicht dann jetzt auch mal. Höchste Zeit, die Geschichte anders zu erzählen: Männer und Frauen können miteinander befreundet sein und zwar auch, wenn sich beide sexuell zueinander hingezogen fühlen. Das ist nur ein Aspekt von Anziehungskraft, der alle anderen zwar in den Schatten stellen kann aber nicht muss. Wieso sollten Männer nicht mit klugen, witzigen, einfühlsamen, loyalen Frauen befreundet sein wollen und können, die sie auch attraktiv finden? Was spricht, sofern die besagten Frauen daran auch Interesse haben, überhaupt dagegen? Wir bieten eine unglaublich einfältige, heterozentrierte Erzählung über Männer und Frauen auf, die angeblich so verschieden sind, dass sie von verschiedenen Planeten stammen könnten. In dieser Erzählung kommen die kriegerischen Marsianer mit den sanften Venusmuscheln nur aus familiären, sexuellen oder liebesbezogenen Gründen zusammen. Nicht aus Freundschaft. Und das ist ein echter Verlust.

Darüber hinaus markiert insbesondere die naturalisierende Vorstellung von Männlichkeit ein Problem. Männer sind ihr zufolge tickende Zeitbomben, die jederzeit von ihrem Trieb übermannt werden. Wer schon von Garagentoren geil wird, dem ist eine platonische Freundschaft mit Frauen einfach nicht zuzutrauen.

Der wird stattdessen mit sexistischer Werbung angesprochen, die Frauen permanent als sexuell verfügbar darstellt, und einfach darauf wartet, dass die Schwanzsteuerung anspringt. Eine solche Vorstellung von Männlichkeit schafft Mythen von „sexuellem Notstand“ und vom „Druck, den Mann abbauen muss“. Sie verunsichert heterosexuelle Männer darüber hinaus in einem Maße, dass nicht wenige von ihnen immer wieder darauf hinweisen, Schwule nicht zu mögen, weil diese sie angeblich ständig anmachen würden. Und während sie Lesben und Schwule allgemein verunsichtbart, behauptet sie nebenher auch noch, dass homosexuelle Menschen nicht gleichgeschlechtlich befreundet sein könnten. Das Harry-und-Harry-oder-Sally-und-Sally-Syndrom.

Vielleicht wäre es klug, Freundschaften zuzulassen und mehr zu feiern, anstatt eine sexuelle Liebesbeziehung zwischen einem Mann und einer Frau als höchste Form der sozialen Interaktion zu definieren. Vielleicht sollten wir die Vielfalt unserer Verbindungen gegenüber der so dominierenden, heteroromantischen Version von Liebe und Sexualität verteidigen. Und ganz bestimmt sollten wir aufhören, kleinen Jungen und Mädchen, die sich mögen und gerne miteinander spielen, zu erzählen, dass sie „später bestimmt mal heiraten werden“.