Das Wochenbett: Bitte regenerieren Sie sich unauffällig. - mit Alexndra Zykonov

Das Wochenbett: Bitte regenerieren Sie sich unauffällig.

Ein Auszug aus dem Buch „Was wollt ihr denn noch alles?!“ von Alexandra Zykunov

Wisst ihr, worüber gefühlt niemand spricht und welche Lebensphase einer gebärenden Person kaum bis gar keine Aufmerksamkeit bekommt? Das Wochenbett. Ich habe vor zehn Jahren mein erstes Kind zur Welt gebracht und wusste zum Beispiel vorher nichts übers Wochenbett. Weder über seine Länge, noch über seine dunklen Phasen, noch über die Tatsache, dass man 10-cm-dicke Giganto-Binden in Giganto-Netzschlüppis tragen wird, weil man wochenlang blutet wie ein Schwein. Und ich wusste auch nicht, wie hoch die Wahrscheinlichkeit in dieser Zeit für nicht nur postnatale Depressionen sein wird, sondern auch für Herzkrankheiten, bipolare Störungen, Krebs oder Diabetes. Ihr auch nicht? Tja, damit sind wir in der absoluten Mehrheit, denn das Wissen, was das Wochenbett physisch und vor allem psychisch mit den Gebärenden macht, ist sowohl in der Forschung als auch in der Politik ein Tabu. Versuchen wir es aufzubrechen.

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Schlafmangel ist doch ganz normal – oder etwa nicht?

Wie schlecht sich Schlafentzug etwa auf Mama und Kind auswirken – obwohl immer als »ganz normal« dargestellt – zeigen neueste Erkenntnisse aus Studien, die sichtbar machen, wie sehr die Fürsorge der Mutter für ihr eigenes Baby tatsächlich  a b n i m m t , wenn sie nicht genug Schlaf, nicht genug Essen und stattdessen mehr als genug Stress bekommt: Die US-amerikanische Neuropsychiaterin Louann Brizendine schrieb in ihrem Bestseller »The Female Brain«, dass Neumütter pro Jahr etwa 700 Stunden Schlaf einbüßen.1

 Das sind 100 ganze Nächte im Jahr! Oder anders gesagt: Das ist, als würde eine Neumutter jede dritte bis vierte Nacht einfach komplett durchmachen, und zwar ohne diesen Schlaf jemals aufzuholen. Über Wochen und viele Monate hinweg. Wozu das führt? Mehr als 64 verschiedene Studien weltweit belegen, dass andauernder Schlafmangel oder auch unterbrochener Schlaf die Wahrscheinlichkeit erhöhen, an Herzkrankheiten zu erkranken oder einen Schlaganfall, Krebs oder Diabetes zu bekommen.2

Noch ein Nicht-So-Fun-Fact für Schlaflose: Eine Person, die vier Nächte hintereinander nur fünf Stunden Schlaf bekommt, für deren Gehirn bedeutet es dasselbe wie eine dauerhafte Alkoholzufuhr von 0,6 Promille. Kleiner Vergleich: In Deutschland gilt gemäß § 24a Straßenverkehrsgesetz (StVG) Alkohol am Steuer ab einer Grenze von 0,5 Promille als Verkehrsordnungswidrigkeit. Und eine Strafe von 500 Euro wird fällig.

Kurze Frage: Würden wir unsere wenige Tage alten Babys mit 0,6-Promille-Menschen alleine lassen? Nein? Ok. Warum finden wir es dann aber vertretbar, dass eine Mutter bzw. gebärende Person das die ersten Wochen komplett alleine durchzieht, weil ihre Beziehungsperson keinen gesetzlichen Anspruch auf eine bezahlte Familienstartzeit hat? Und, dass dieser gesetzliche Anspruch für die sogenannte Familienstartzeit seit Jahren auf die lange Bank geschoben wird, obwohl die Regierung diese schon 2021 angekündigt hatte?

Kleiner Vorschlag: Warum messen wir nicht regelmäßig die Schlafqualität frischgebackener Mütter und jedes Mal, wenn sie aufgrund von mangelnder Unterstützung durch Partner*innen und Politik über 0,5 Promille kommen, müssen b e s a g t e  P a r t n e r * i n n e n  o d e r  d i e  P o l i t i k  528,50 Euro an ebendiese Mütter zahlen! Eine Schlafordnungswidrigkeit frischen Müttern gegenüber. Na, wie wär‘s?

Vom Schlaf auf Rezept und postpartalen Hotels

Wisst ihr, wogegen genug Schlaf auch hilft? Gegen postnatale Depressionen. Schlussfolgerung müsste also sein, dass Gynäkolog*innen und Kinderärzt*innen Müttern für alle Fälle schon mal  S c h l a f   v e r s c h r e i b e n , um Depressionen vorzubeugen. Ein Hausarztrezept für genug Schlaf ? Als ich das las, wusste ich nicht, ob ich das jetzt total absurd oder total genial finden sollte. In Australien hat man zumindest schon Gelder lockergemacht für ein Netzwerk an Schlaf-Pflegefachkräften, die mit frischgebackenen Eltern zu Hause Strategien erarbeiten, wie a l l e Familienmitglieder genug Schlaf bekommen – besonders die Mutter. Bezahlt von der gesetzlichen Krankenversicherung.3 In den Niederlanden gibt es die ebenfalls vom Staat finanzierte »Kraamverzorgende«4 , eine ausgebildete Wochenbettbegleitung, die die ersten zwei Wochen nach der Geburt in die Familien kommt, einkauft, kocht und sich um die Geschwisterkinder kümmert. In Südkorea gibt es vom Staat subventionierte »postpartale Nannys«, die die ersten Wochen nach der Geburt sogar 24/7 in die Familie kommen. Mehr noch: In dem Land gibt es sogar postpartale Hotels! Kein Witz. Räumlichkeiten, in die eine frischgebackene Mama nach der Geburt ziehen kann und wo sie von Pfleger*innen und Nannys betreut wird, damit sie in der ersten Zeit des Wochenbetts genesen, sich regenerieren und – Achtung – genug Schlaf und eine ausgewogene Ernährung bekommen kann.

Warum gibt es solche Angebote bei uns nicht, fragt ihr euch? Wie kann es sein, dass die Zusammenhänge von Schlafmangel und Gesundheitsschäden nicht viel lauter und öffentlicher verhandelt werden? Tja, weil erstens hierzulande die Geburt eines Kindes diese vor Glückseligkeit kotzende, mit Zuckerguss überzogene rosarote Bussi-Baby-Zeit sein soll. Wer wird denn da von Depressionen und Gehirnschäden sprechen wollen? Und zweitens die Erforschung von Erkrankungen, die frauenspezifisch oder gar mütterspezifisch sind, auf der Agenda der Forschung irgendwo beim vorletzten Fliegenschiss rangiert. Was uns zum nächsten unerforschten Abschnitt des Wochenbetts bringt: dem Vorboten der waschechten postpartalen Depression, im Volksmund auch Babyblues genannt.

Warum das alles der Forschung egal ist

Warum bekommen Frauen überhaupt den Babyblues, diese eher kurze Phase der Niedergeschlagenheit, Ängstlichkeit oder Labilität kurz nach der Geburt? Kann die Wissenschaft nicht sagen. Warum bei etwa 20 Prozent aller Babyblues-Betroffenen eine längerfristige postpartale Depression entsteht?Kann die Wissenschaft nicht sagen. Sie kann auch nicht sagen, warum im ersten Monat nach der Geburt Frauen eine 23-mal höhere Gefahr haben, an einer bipolaren Störung zu erkranken, als im weiteren Verlauf ihres Lebens.6

Überhaupt beschäftigt sich die Erforschung des Wochenbetts, wenn sie überhaupt stattfindet, mit physiologischen Aspekten wie Rückbildung oder Heilung. Alles, was diese Zeit psychologisch herausfordernd macht, der Stress, die Sorgen, Ängste, Rollenfindungen als Eltern, sucht man in Ratgebern oder Studien vergebens. Diese Erfahrung beschreibt Autorin Jana Heinicke im Buch »Aus dem Bauch heraus«.7 Mehr noch: Die Psychologin Lisa Hoffmann, eine der wenigen Forscher*innen weltweit, die das Wochenbett aus einer psychologischen Perspektive untersucht, erklärt, dass wissenschaftliche Arbeiten dazu Schwierigkeiten haben, überhaupt p u b l i z i e r t  zu werden.8 Warum? Weil erstens in der Psychologie die Geburt eines Kindes nicht als »kritisches Lebensereignis« angesehen wird. Und zweitens, weil die zuständigen Redaktionen in wissenschaftlichen Psychologie-Publikationen Themen wie Geburt und Wochenbett schlicht nicht relevant genug finden.9

Sorry, aber bitte was?! Ich frage mich wirklich ernsthaft, ob all das Desinteresse und all die Wissens- und Forschungslücken eigentlich auch genauso vorhanden wären, wenn nicht Frauen, sondern cis M ä n n e r  gebären würden!

Wie anders wäre die Welt würden cis Männer Kinder kriegen…

Ganz im Ernst: Würden cis Männer gebären, hätten wir dann immer noch so viele lebensbedrohliche Forschungslücken oder wären die Beschaffenheit von Plazenta, Fruchtblase und Dammriss längst salonfähiger Bestandteil jeder Büroküchenunterhaltung?

Würden cis Männer gebären, würde Stillen im öffentlichen Raum dann wirklich als unangemessen angesehen werden? Oder würde man stattdessen in eigens dafür eröffneten Milchbars Milchweitspritzwettbewerbe veranstalten mit tosendem Applaus der breiten Öffentlichkeit?

Würde das Wunder der Schwangerschaft, das fast schon göttliche Kreieren von anderen Lebewesen, ihren Knochen, Gehirnen und Organen innerhalb eines anderen menschlichen Körpers immer noch ins Private verschoben werden? Oder würde es längst Superbowlartige Public Viewings von Geburten berühmter Daddys geben, mit Standing Ovations und milliardenschweren Übertragungsrechten?

Würden cis Männer gebären, würden Hebammen dann immer noch lächerliche 1752 Euro netto verdienen? Hätten wir dann immer noch so einen eklatanten Hebammenmangel und würden wirklich bis zu 50 Prozent aller frischgebackenen V ä t e r  deswegen auf eine Hebamme verzichten, die ihrem neugeborenen Baby beim Überleben hilft und schaut, ob ihr Penis nach der Geburt wieder gut zusammenwächst?! Oder wäre das alles dann gaaanz anders und Hebammen wären gehaltstechnisch Fußballmanagerinnen, deren Namen ganze Fußballstadien und Straßenzüge zieren würden? 

Ich glaube, wir alle kennen die Antworten auf diese Fragen. 

Und so frage ich mich, wie es heutzutage trotz dieser frauen- und mütterfeindlichen Erkenntnisse immer noch große Teile der Bevölkerung geben kann, die all diese Zusammenhänge nicht sehen? Oder ob sie es vielleicht einfach nicht sehen wollen und stattdessen die Fakten dahinter kleinreden.

Ich fürchte, es ist ein bisschen was von beidem. Es ist noch ein langer Weg.

Quellen

1 Louann Brizendine (2007): The Female Brain. Harmony. New York. S. 105.
2 Nicole Leistikow et al. (2022): Prescribing Sleep: An Overlooked Treatment for Postpartum Depression. In: Biological Psychiatry. Volume 9. S. 13–15
3 Ebd., S. 14.
4 Abigail Tucker (2021): Was es bedeutet, eine Mutter zu werden. Ullstein extra. Berlin. S. 345.
5 Ebd., S. 20.
6 Ebd.
7 Jana Heinicke (2022): Aus dem Bauch heraus. Wir müssen über Mutterschaft sprechen. Goldmann. München. S. 121.
8 Ebd. S. 123–126.
9 Ebd.


Wenn wir von Frauen und Mädchen oder von Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf strukturelle gesellschaftliche Rollen, die weiblich und männlich gelesene Personen betreffen. Gleiches gilt für die Adjektive “weiblich” und “männlich”. In Statistiken und Studien, die wir zitieren, wird leider oft nur zwischen Frau und Mann differenziert.

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Bildquelle: PINKSTINKS