CN: Gewalt gegen Menschen, Tod, Krieg
Das Interview zwischen Pinkstinks und Shahrzad Eden Osterer hat am 04. November 2022 stattgefunden. Seitdem spitzt sich die Lage in Iran zu und die Revolte zeigt täglich mehr und mehr revolutionäre Züge auf. Bitte informiert euch über die Entwicklungen in Iran und haltet euch auf dem Laufenden.
„Ich spreche mittlerweile nicht mehr von Protesten, sondern von einer Revolte und damit bin ich nicht allein.
Shahrzad Eden Osterer, Journalistin
Neu sind Proteste in Iran nicht. Neu ist dieses Mal aber die Größe der Aufstände, die zu einer Revolte geworden sind, und die internationale Aufmerksamkeit. Das gibt Hoffnung.
Shahrzad Eden Osterer ist in Iran geboren und aufgewachsen, lebt seit vielen Jahren in Deutschland und arbeitet für den Bayerischen Rundfunk. Sie ist eine von vielen Exil-Iraner*innen, die gerade alles dafür tun, das Sprachrohr der Menschen in Iran zu sein und deren Stimmen hinaus in die Welt zu tragen. Durch Menschen wie Shahrzad bekommen wir einen direkten Einblick in die Geschehnisse und die Einordnung einer sachkundigen Journalistin, die unsere Fragen beantworten kann.
Worum geht es bei den Protesten und was ist dieses Mal anders? Handelt es sich schon um eine Revolution und welche Rolle spielen die Medien und die Politik in Deutschland? Und: Was ist jetzt wichtig? Was können wir tun?
Pinkstinks hat mit der Journalistin Shahrzad Eden Osterer über die Lage in Iran gesprochen.
Seit Jahren gibt es immer wieder Proteste in Iran, die sich gegen die islamische Republik und das Regime wenden. Wie ist es nun zur aktuellen Situation gekommen?
In der iranischen Gesellschaft gibt es seit der Machtübernahme der Islamisten 1979 eine tiefsitzende Unzufriedenheit. Wir haben es hier mit einem extrem korrupten System zu tun, mit einer hohen Arbeitslosigkeitsrate, mit Vetternwirtschaft, Missmanagement und vor allem systematischer Unterdrückung. Davon sind ethnische Minderheiten und queere Personen genauso betroffen wie Frauen. Frauen wurden schon mit dem Beginn der islamischen Revolution unterdrückt, indem ihnen alle Rechte entzogen wurden. Iran hatte immer eine organisierte und lebhafte Frauenbewegung, die dann aber leider mit der grünen Bewegung 2009 komplett zerschlagen wurde. Trotzdem haben viele Frauen weiterhin auf individueller Basis protestiert.
Wie kann man sich diesen individuellen Protest vorstellen?
Ein wichtiges Beispiel, was noch nicht lange zurückliegt, sind die Frauen der Enghelab-Straße. Vida Movahed ist damals auf einen Stromkasten geklettert, hat sich ihr Kopftuch abgezogen und es an einem Stock durch die Luft geschwenkt. Damit hat sie auf ihre Weise gegen die obligatorische Kopfbedeckung und gegen die systematische Unterdrückung der Frauen protestiert. Daraufhin sind viele andere Frauen ihrem Beispiel gefolgt und haben die Aktion wiederholt. Sie alle sind im Gefängnis gelandet. Solche Aktionen gegen die systematische Unterdrückung gab es in den letzten Jahren immer wieder. Von den Medien wurden sie meistens als „Kopftuch-Proteste“ bezeichnet. Das finde ich nicht richtig.
Was stört dich an dieser Formulierung?
Die Frauen werden seit 43 Jahren unterdrückt. Der Zwangshijab ist nur das augenscheinlichste, das offensichtlichste Merkmal dieser Unterdrückung. Doch es gibt auch andere frauenfeindliche Gesetze, gegen die die Frauen sich mit den Protestaktionen wehren.
Welche Gesetze sind das zum Beispiel?
Das ist eine lange Liste. Frauen können sich zum Beispiel nicht scheiden lassen. Das Scheidungsrecht liegt beim Mann. Ohne dessen Erlaubnis oder der Erlaubnis ihres Vaters dürfen Frauen in Iran auch nicht studieren, nicht arbeiten, nicht das Land verlassen. Beim Sorgerecht sind Frauen ebenfalls schlechter gestellt als Männer. Ihre Aussagen sind weniger wert, das ist sogar juristisch festgelegt: Die Aussage von vier Frauen vor Gericht gilt wie die Aussage eines Mannes. Ein Mann darf vier Frauen heiraten, Frauen nur einen Mann. Diese frauenfeindlichen Gesetze wurden von Anfang an eingeführt, um die Kraft, Macht und Körper von Frauen zu kontrollieren.
Was ist an den jetzigen Protestens anders als bisher?
Ich spreche nicht mehr von Protesten, sondern von einer Revolte und damit bin ich nicht allein. Viele Experten bezeichnen das, was gerade in Iran passiert, ebenfalls als Revolte. Sie begann mit dem Mord an Jina Amini, die getötet wurde, weil sie eine Frau war. Jina Amini war Kurdin, Sunnitin. Die Kurden sind ein Volk in Iran, was von Beginn an massiv unterdrückt wurde. Die grüne Bewegung von 2009 war eine reformorientierte Bewegung gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl, die männerdominiert war.
Heute ruft man „Frauen, Leben, Freiheit“, den Slogan der kurdischen Frauenbewegung, in der Sprache der unterdrückten Minderheit. Das bedeutet, dass wir einen Riesenschritt gemacht haben. Das Verständnis der iranischen Bevölkerung von Zusammenhalt und Demokratie hat sich immens verändert. Diese Revolte hat eine sehr intersektionale und feministische Dynamik. Sie richtet sich gegen den Kern der islamischen Republik.
Es geht nicht um hohe Benzinpreise, gegen Inflation oder hohe Arbeitslosigkeit, sondern um die Abschaffung des Systems.
Warum ist der Zusammenhalt ein anderer als früher?
Nach den 43 Jahren, in denen so viel schiefgelaufen ist, hat der Mord an Jina Amini das Fass zum Überlaufen gebracht. Früher hat man denen, die dann aufgestanden sind und sich gewehrt haben, vorgeworfen, sie seien Separatisten, die das Land auseinanderbringen wollen. Ich glaube, die Menschen haben jetzt aber verstanden, dass wir alle eins sind und zusammenhalten müssen. Egal, welche Religion wir haben, egal welche Sprache wir sprechen, welches Geschlecht wir haben und wie unsere Lebensumstände sich unterscheiden.
Die Unterdrückung der Frauen ist eine der wichtigsten Säulen der islamischen Republik. In den vergangenen Bewegungen wurde Frauen gesagt, dass ihre Befreiung aus der Unterdrückung nicht die oberste Priorität sei, weil es Wichtigeres gäbe, um das man sich zuerst kümmern müsse. Jetzt hat sich diese Sichtweise verändert. Die feministische Dynamik ist wichtig für die Abschaffung des Systems und die Männer haben dieses Mal schon früh begonnen, die Frauen zu unterstützen. Sie gehen Seite an Seite mit ihnen auf die Straße für deren Recht auf Gleichberechtigung.
Welche Rolle spielt die Jugend dabei?
Man muss der Generation Z eine große Aufmerksamkeit schenken. Etwa 60 % der iranischen Bevölkerung ist unter 30 Jahre alt. Das ist eine Generation, die die islamische Revolution nicht erlebt hat und die die Propaganda des achtjährigen Iran-Irak-Krieges von 1980 bis 1988 nicht direkt mitbekommen hat, die in den Generationen davor tief verwurzelt ist. Ich bin mitten in diesem Krieg geboren. Auch, wenn meine Familie eine offene Familie war, die immer gegen das System war, habe ich Bilder vom Krieg und von Märtyrern im Fernsehen gesehen oder in der Schule inhaliert. Wir haben die Angst vor diesen Menschen, ihren Waffen und ihrer Macht regelrecht aufgesaugt. Die Generation Z hat diese Angst nicht – und sie ist unheimlich verzweifelt. Sie sind mit dem Internet aufgewachsen. Sie wissen genau, wie die Welt da draußen aussieht und was Freiheit bedeutet. Sie wollen dieses Leben unter dem System nicht und sie wollen keine Kompromisse. Diese Generation ist mutig und konfrontationsbereit. Sie denkt freier und intersektionaler. Das alles darf man nicht unterschätzen.
Warum ist die weltweite Aufmerksamkeit dieses Mal so hoch?
Immer, wenn etwas in Iran passiert, wird das Internet gedrosselt, um zu verhindern, dass diese Bilder die Welt erreichen. Die grüne Bewegung 2009 wurde damals auch als „erste Social-Media-Bewegung“ bezeichnet. Es war das erste Mal, dass in diesem Ausmaß Bürgerjournalismus betrieben wurde. Jeder hat seinen Bericht von der Straße gedreht und hochgeladen. Das war vor 13 Jahren. Heute sind das Internet und die Menschen im Umgang damit viel weiter. Früher waren die Internetsperren ein größeres Problem als jetzt. Trotz der massiven Drosselung des Internets bei dieser Revolte erreichen uns unablässig Videos – mal mehr, mal weniger, aber durchgehend. Die Welt sieht, was in Iran passiert. Wir verdanken den Menschen vor Ort, die trotz aller Gefahr versuchen, ihr Telefon hochzuhalten – selbst wenn auf sie geschossen wird – so viel.
Die Gefahren und Konsequenzen für Iraner*innen sind enorm…
Dreihundert Menschen wurden in diesem Krieg bereits umgebracht. Darunter vierzig Kinder. Die Dunkelziffer ist viel höher. Meine Freunde sitzen im Gefängnis. Die, die nicht im Gefängnis sind, leben versteckt. Wenn diese Revolte nicht zu einer Revolution wird, müssen die iranischen Menschen einen unheimlichen Preis dafür zahlen. Erste Todesurteile sind gefällt, es werden weitere folgen. Verhaftungen, Repressionen, kein Internet.
Es ist nicht abwegig, die Frage zu stellen, was danach in Iran passieren wird. Warum ist es dir wichtig, den Fokus auf der aktuellen Revolte zu lassen und nicht immer von diesem „Danach“ zu sprechen?
Die islamische Republik behauptete immer, Iran sei eine sichere Insel in einem Meer des Chaos. Sie hat die Menschen dazu gebracht zu glauben, dass wir in Iran Sicherheit und Stabilität hätten. Die Menschen haben jetzt begriffen, dass das eine Lüge ist. Sie sind hier nirgendwo sicher. Mit diesem System kommen wir nicht weiter. Aber die Menschen können nicht über Freiheit und Menschenrechte nachdenken, wenn sie nicht einmal ihr Abendbrot auf den Tisch bekommen. Das Regime hat uns jegliche Möglichkeiten genommen, nachzudenken oder zueinander zu finden. Wir brauchen Luft und Raum, um zu überlegen, was danach kommen soll. Die Türen des Evin-Gefängnisses müssen geöffnet werden. So viele kluge Köpfe sind inhaftiert oder geflohen. Viele von ihnen könnten Führungspositionen übernehmen, in unseren Parlamenten sitzen, politische und aktivistische Positionen einnehmen. Solange das Regime da ist, sind wir von einer Krankheit befallen. Es ist wie ein Tumor, den wir entfernen müssen. Wenn mir ein Arzt sagt, dass ich einen Gehirntumor habe, der entfernt werden müsse, frage ich nicht, was er stattdessen in meinen Kopf hineintut. Nach der Entfernung kann man über weitere Therapien nachdenken. Und so ist es auch mit dem Regime, das verschwinden muss, bevor wir über ein Referendum und unser zukünftiges politisches System nachdenken können. Wir brauchen erst einmal den freien Raum, um uns auszutauschen.
Was forderst du von der europäischen oder der deutschen Politik?
Wir brauchen klare Haltung und klare Handlungen. Zum Beispiel, dass jegliche Verhandlungen mit der islamischen Republik gestoppt werden. Andere Journalistinnen und ich haben mit Frau Baerbock darüber gesprochen. Das Sanktionspaket, was aus der EU gekommen ist, schadet der islamischen Politik nicht. Es richtet sich gegen elf unwichtige Köpfe der islamischen Republik und der Sittenpolizei. Im Vergleich dazu hat Kanada Sanktionen gegen 10.000 Köpfe der islamischen Republik und Revolutionsgarde verhängt. Eigentlich muss man sagen: Das ist peinlich. Die EU-Sanktionen sind lächerlich. Und das späte Statement von Olaf Scholz, in seinem knappen Tweet, haben viele meiner Freunde stark kritisiert.
Er spricht von unverhältnismäßiger Gewalt und ich frage mich, was verhältnismäßige Gewalt wäre. Er schreibt davon, dass die Menschen in Iran „ums Leben kommen“, als ob sie stolpern und hinfallen, sich den Kopf stoßen und deshalb sterben würden. Dabei werden sie ermordet. Nach sieben Wochen Revolte, so vielen Verhaftungen und Toten, vom Bundeskanzler des wichtigsten Verhandlungspartners Irans und der islamischen Republik in der EU, haben die iranischen Menschen viel mehr erwartet. Was muss noch alles passieren, damit die Menschenrechte für wichtiger angesehen werden als die Wirtschaft? Nicht erst seit gestern werden Menschen in Iran erhängt und Frauen oder Minderheiten unterdrückt. Es hätte schon viel früher etwas passieren müssen. Ich weiß, dass die Bundesregierung lange falsch beraten wurde. Auch von Lobbyisten der islamischen Republik. Zum Glück kommt das alles aktuell ans Licht.
Wie hast du die Berichterstattung der deutschen Medien bislang erlebt?
Man hat hierzulande erst sehr spät angefangen zu berichten, weil man die Lage nicht ernst genommen hat. Dann hat man auch noch Stimmen in etablierten Medien gehört, die eins zu eins die Propaganda der islamischen Republik weitergegeben haben – wie beispielsweise die von Adnan Tabatabai. Es wurde versucht, das, was passiert, auf „Kopftuch-Proteste“ herunterzuspielen oder der Bewegung einen islamophoben Stempel aufzudrücken, damit sie nicht unterstützt wird. In vielen Redaktionen wurde nicht genug recherchiert und uns Iranerinnen und Iranern im Exil wurde vorgeworfen, nicht objektiv genug und zu emotional zu sein, um über die Proteste zu berichten.
Wer macht gute Arbeit, die wir mit gutem Gefühl lesen und teilen können?
Katharina Willinger, Gilda Sahebi, Natalie Amiri, Golshifteh Farahani, Golineh Atai oder Duzen Tekkal von Hawar Help machen zum Beispiel großartige Arbeit. Was sie berichten, ist eins zu eins das, was die Menschen in Iran sagen, brauchen und fordern. Sie sind sehr gut vernetzt, kennen die Strukturen, sprechen die Sprache und haben Menschen vor Ort. Diese Frauen sind mit ihrer Arbeit beste und zuverlässige Quellen für journalistische Arbeit.
Was können wir hier in Deutschland tun, um die Revolte zu unterstützen? Bringt es etwas, Petitionen zu unterschreiben, die auf Social Media geteilt werden?
Auf jeden Fall. Nicht wegschauen, das ist wichtig. Ich bin so froh zu sehen, wie viele Menschen, die mir auf Instagram folgen, mir schreiben und meine Posts teilen, um sie zu verbreiten. Vor ein paar Tagen war ich am Ende, weil es im Evin-Gefängnis ein Feuer gab. Es fielen Schüsse. Ich hatte Angst, weil Freunde von mir dort gerade inhaftiert sind und ich nicht wusste, ob sie noch leben. Ich habe von Menschen in Deutschland so viele positive Nachrichten bekommen und das hat mir viel Kraft gegeben. In Berlin sind Tausende nicht-iranische Menschen auf die Straße gegangen. Die Menschen in Iran haben das im Satellitenfernsehen gesehen und geweint.
Diese Bilder haben sie gestärkt und ihnen Kraft gegeben, um wieder auf die Straße zu gehen. Es gab danach große Protestaktionen in Iran. Die Menschen dort fühlen sich durch geäußerte und gezeigte Solidarität gehört und gesehen. Das ist unheimlich wichtig – aber es genügt nicht. Wir brauchen den Druck auf die Politik. Die von uns gewählten Menschen müssen aktiv werden. Daniela Sepehri ist eine Aktivistin aus Berlin. Sie hat einen Link erstellt, worüber man den Abgeordneten im Bundestag schreiben kann. Ich wünsche mir, dass die Menschen in Deutschland Mails und Briefe schreiben, in denen sie die Politikerinnen und Politiker auffordern zu handeln. Das ist auch das, was die Menschen in Iran sich wünschen.
Wir, die in Freiheit und Demokratie in einem Rechtsstaat leben können – auch mit aller unserer Kritik daran –, haben die Möglichkeit, unsere Forderungen frei zu äußern. Diese Gelegenheit sollten wir nutzen.
Weitere Updates zur Lage in Iran
Wir haben euch in diesem Beitrag zusammengetragen, was ihr tun könnt, welchen Accounts und Menschen ihr folgen könnt, um auf dem Laufenden zu bleiben und wie ihr selbst aktiv werden könnt.
Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich gelesenen Personen betreffen. Wenn wir die Adjektive „weiblich” oder „männlich” benutzen, beziehen wir uns ebenfalls auf die stereotypische gesellschaftliche Verwendung der Begriffe.
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Bildquelle: Johannes Graf