Nippelfreiheit

Eigentlich sollte es diesen Text überhaupt nicht geben. Es ist geradezu lächerlich, dass wir 2023 immer noch darüber debattieren, ob Brüste mit Nippeln in den sozialen Netzwerken gezeigt werden dürfen. Aber hier sind wir: Knapp 10 Jahre, nachdem die Regisseurin Lina Esco den Dokumentarfilm Free The Nipple veröffentlicht hat, sind wir immer noch nicht wirklich weiter damit gekommen, weibliche und weiblich gelesene Körper aus der Sexualisierungsfalle zu befreien.
Sicher, ein paar Dinge haben sich mittlerweile bewegt: Bei Meta denkt man seit Kurzem offenbar darüber nach, den unsäglichen und unsinnigen Nippelbann auf der Plattform Instagram endlich fallen zu lassen. Aber noch ist es nicht so weit. Nicht bei Instagram und auch nicht bei anderen Plattformen. Wenn man sich bei YouTube den Trailer des Dokumentarfilms anschauen möchte, wird die Bildvorschau ausgegraut, weil man sich dafür als volljährig anmelden muss.

Seitdem das Thema auf die Agenda gebracht wurde, gibt es zwei vorherrschende Reaktionen: Skandalisierung und Trivialisierung. Die Skandalisierung empört sich über die angeblich zunehmende Sexualisierung der Gesellschaft. Sie markiert öffentliche (Semi-)Nacktheit, insbesondere weibliche (Semi-)Nacktheit, als skandalös und verwerflich. Entblößte Frauenbrüste werden in diesem Zusammenhang faktisch als Vorbote der nahenden Apokalypse gedeutet: Wenn es so weit kommt, dass Frauen halbnackt in der Öffentlichkeit herumlaufen dürfen, dann tut sich wohl auch bald die Erde auf und es regnet Frösche. Die Trivialisierung hingegen verharmlost den Sachverhalt: Haben wir nicht ernsthaftere Probleme? Können wir uns nicht mal um die wirklich wichtigen Dinge kümmern?!

Beides geht am Kern der Sache vorbei. Denn im Kern geht es um eine permanente und automatische Sexualisierung von weiblichen Körpern, die Frauen für grundsätzlich sexuell verfügbar erklärt. Der tatsächliche Skandal besteht also darin, die Körper von Frauen gegen ihren Willen in einen sexuellen Zusammenhang zu stellen und sie dementsprechend zu behandeln. Daran ist überhaupt nichts trivial. Das ist die Taktik, nach der Frauen in allen Gesellschaften in Abstufungen beschämt, verängstigt und ausgebeutet werden. Dass es dabei auch in angeblich so freien westlichen Gesellschaften deutliche Unterschiede gibt, lässt sich zum Beispiel an verschiedenen Reaktionen auf gemischtgeschlechtliche Saunen beobachten. Oder wie es eine US-Amerikanerin über die Frauen in ihrem Heimatland ausdrückt: „We are living our own version of Naked & Afraid.“

Immerhin reden wir von einer Gesellschaft, die wegen Janet Jacksons entblößter Brust die Begriffe „Nipplegate“ und „Wardrobe Malfunction“ erfunden hat. Aber auch hierzulande wird „die nackte weibliche Brust als Sittlichkeits- und Rechtsproblem“ eingestuft. Sie erregt mit der Schutz- und Zugriffsbehauptung, ihre Entblößung würde eine sexuelle Handlung darstellen, in der Öffentlichkeit Ärger. Dabei wird Obszönität lediglich behauptet.

In Wirklichkeit geht es wie so oft um Macht. Welche Körper dürfen den öffentlichen Raum wie besetzen? Welche Körper werden kommentiert, reglementiert und bewertet? Welche Körper sollen von Entblößung absehen, um sich vor Übergriffen „zu hüten“?

Eigentlich sollte es ganz einfach sein: Brust raus, wer will. Darüber hinaus gilt Rücksichtnahme für alle.

Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen. Wenn wir die Adjektive „weiblich” oder „männlich” benutzen, beziehen wir uns ebenfalls auf die stereotypische gesellschaftliche Verwendung der Begriffe.

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Bildquelle: Pinkstinks Germany e.V.