Schon mal versucht, in einer größeren Stadt mit Kinderwagen, Bus und Bahn zu fahren – was leider immer noch viel mehr Frauen als Männer betrifft? Genau. Städteplanung ignoriert alle, die keine Männer ohne Behinderung im Auto sind.
Geschlechter bewegen sich unterschiedlich durch den öffentlichen Raum. Deshalb erleben sie Bewegungsfreiheit oder Einschränkungen auch anders. Das belegt unter anderem eine Studie des Bundesverkehrsministeriums. Die Unterschiede sind demnach „auf die unterschiedlichen Lebenskontexte von Männern und Frauen zurückzuführen“.
Anders ausgedrückt: Geschlechter-Ungerechtigkeit ist auch in unsere Städte fest eingebaut.
Wie sieht das aus?
Zum Beispiel so: Keine Rolltreppen, keine Aufzüge, keine Rampen – Personen mit Bewegungseinschränkungen oder mit Kinderwagen müssen oft Hindernisse überwinden, weil sie bei der Planung nicht mitgedacht wurden.
Das hat die kanadische Geografin Leslie Kern auf die Idee zu einem Buch über feministische Städteplanung gebracht, wie sie in einem Interview erzählt: „Als ich schwanger und dann eine neue Mutter war, wurde mir klar, dass auch die bauliche Umgebung eine Rolle beim Erleben von Sexismus und Patriarchat spielt … Wenn man versucht, einen Kinderwagen durch die Innenstadt zu schieben … kommt man nur langsam voran, muss anhalten und sich hinsetzen; die Umgebung arbeitet gegen einen.“
Wenn man versucht, einen Kinderwagen durch die Innenstadt zu schieben … kommt man nur langsam voran, muss anhalten und sich hinsetzen; die Umgebung arbeitet gegen einen.
Autorin Leslie Kern („Feminist City“) in einem Interview bei bitchmedia
Warum pinkeln politisch ist:
Ein anderes Beispiel: Es gibt in Städten oft nicht genug kostenlose, saubere und sichere öffentliche Toiletten. In Restaurants, Geschäften oder Cafés dürfen meist nur Kund*innen aufs WC. Menschen mit Penis hingegen können zumindest theoretisch im Notfall jederzeit in eine Ecke oder hinter einen Baum verschwinden. Das ist für Menschen ohne Penis viel schwieriger. Aber jeden Ort vorher auf Klo-Verfügbarkeit hin prüfen und deshalb gegebenenfalls meiden zu müssen – das schränkt nun mal ein.
Dazu kommt, dass Städte für Autos gebaut sind und Verkehrsnetzwerke für Berufspendler*innen. Nicht für Personen, die verschiedene Orte wie Kita, Schulen, Geschäfte, Ärzt*innen an einem Tag ansteuern müssen – was mehr Frauen als Männer betrifft. Verkehrsteilnehmende ohne Auto spielen also eine sehr viel unwichtigere Rolle.
Laut Statistik des Kraftfahrt-Bundesamtes gingen im September 2021 nicht mal ein Drittel (30,9 Prozent) der Pkw-Neuzulassungen an „weibliche Halter“; laut Mobilitätsstudie legen Männer im „Schnitt deutlich weitere Distanzen zurück als Frauen“. Da Männer statistisch gesehen auch heute noch mehr Auto fahren als Frauen, gehören ihnen quasi die Städte.
Autolose Menschen müssen sich grundsätzlich dem Auto unterordnen und brauchen deshalb immer länger für ihre Wege. Außerdem leben sie gefährlicher.
Wer sich draußen fürchten muss, bleibt eher zu Hause.
Schule gegen Seximus
Das Thema Sicherheit im öffentlichen Raumbeschränkt sich aber nicht nur auf mögliche Verkehrsunfälle. Weibliche Personen ohne Auto – zu Fuß, auf dem Rad, in Bussen und Bahnen – werden im öffentlichen Raum eher belästigt. Von schlecht beleuchteten Wegen, dunklen Plätzen und verlassenen Bahnhöfen ganz zu schweigen.
Laut Autorin Leslie Kern dient die Angst von Frauen im öffentlichen Raum übrigens als eine Art Kontrollmechanismus. Denn wer sich draußen fürchten muss, bleibt eher zu Hause.
Diese Ungerechtigkeit hat mehrere Ursachen.
Was sind die Gründe?
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Autos immer üblicher. Und große Teile des öffentlichen Raums wurden damals neu gestaltet – für Autos. Ein Beispiel sind die gigantischen Spaghetti-Kreuzungen in den USA. Hier ist das Kfz der Boss, kein Zweifel.
Außerdem galt in den 1950ern die Kleinfamilie als Norm und Ideal – mit arbeitendem Papa und Mama daheim mit den Kindern. Klare Arbeitsteilung, etwas anderes war nicht vorgesehen. Immerhin brauchten verheiratete Frauen in Westdeutschland bis 1977 sogar die Unterschrift ihres Ehemannes, wenn sie arbeiten wollten. Das Wort „Hausfrau“ sagt im Grunde alles: Die Frau bleibt zu Hause.
Das Wort „Hausfrau“ sagt im Grunde alles: Die Frau bleibt zu Hause.
Schule gegen Sexismus
Deshalb wurden in den vergangenen 70 Jahren so viele Städte auf berufstätige Männer in Autos ausgerichtet. Und Frauen, die – oft ohne Auto – mit Kindern oder zu betreuenden Angehörigen zu Ärzt*innen, in Geschäfte, zu Schulen und Kitas oder auf Spielplätze mussten, wurden schlicht nicht mitgedacht. Männer als Maßstab für die Welt.
Das Problem ist übrigens älter als 70 Jahre, denn in Städten ließen schon immer ungleiche Machtverhältnisse erkennen. Auch, was Geschlecht betrifft. Die Historikerin Judith Walkowitz hat zum Beispiel das viktorianische London unter die Lupe genommen. In Zeitschriften aus der Zeit hieß es, dass respektable Frauen zu Hause bleiben oder nur in Begleitung eines Mannes rausgehen sollten. Städte waren „zu gefährlich“ für sie. Für Männer nicht.
In dieser Aufteilung in gefährliche, öffentliche Sphäre als männlich und die sichere, häusliche als weiblich zeigt sich die Rollenaufteilung des Patriarchats: Frauen gehören an den Herd, also machen wir ihnen alles andere so schwer wie möglich.
Das betraf und betrifft allerdings auch ältere Leute ebenso wie Kinder, Menschen mit Behinderungen, sowie non-binäre und queere Personen. Und Menschen mit wenig Geld. Ihre Bedürfnisse nach Sicherheit und Mobilität finden in der Stadt so gut wie nicht statt. „Frauen und marginalisierte Gruppen mussten immer ihre eigenen Wege finden, um die Stadt für sich arbeiten zu lassen – so viele Gruppen sind vom städtischen Raum und den Vorteilen des städtischen Lebens ausgeschlossen“, sagt auch Leslie Kern.
Am Grundproblem – dass Städte für arbeitende Männer ohne Behinderung in Autos gemacht sind – hat sich auch im neuen Jahrtausend nicht viel geändert. Mehr Überwachung, Radwege und Elektrofahrzeuge richten da nicht viel aus. Städte und Architektur müssen neu und inklusiver gedacht werden.
Ein erster wichtiger Schritt zur Verbesserung könnte aber schon mal sein, die Verkehrspolitik von Grund auf zu verändern. Weg von Autos und Männern als Mittelpunkt der Welt. Stattdessen mehr Bewegungsfreiheit – und zwar für alle Menschen.
Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich gelesenen Personen betreffen.
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Bildquelle: Alexander Popov/Unsplash