Alle längst gleichberechtigt – oder?

„Wozu Feminismus? Frauen dürfen doch längst alles – sogar ins All fliegen oder Kanzlerin werden!“ Solche Aussagen gehören oft zum Alltag, nicht nur auf Familientreffen mit Onkel Heinz und Tante Trude. Aber ist das wirklich so – sind Mann und Frau schon komplett gleichberechtigt?

Dazu ist es sinnvoll, sich das Wort Gleichberechtigung kurz genauer anzuschauen: Gleich berechtigt beinhaltet im Grunde das gleiche Recht, Dinge zu tun, zu haben oder zu sein. Vor dem Gesetz trifft das hierzulande inzwischen zu. „In Deutschland ist die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht“, schreibt die Bundesregierung. Allerdings heißt es weiter: „An der tatsächlichen, alltäglichen Gleichstellung arbeiten wir noch.“

Die Bundesregierung setzt sich zwar aktiv für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ein, aber trotzdem gibt es aktuell noch einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Denn nur, weil Männer und Frauen vor dem Gesetz die gleichen Rechte haben, haben sie noch lange nicht gesellschaftlich im Alltag auch die gleichen Chancen. Oder Pflichten. 

Beispiel gefällig?

Frau und Mann in Partnerschaft, beide arbeiten in Vollzeit. Sie beschließen, eine Familie zu gründen. Obwohl beide arbeiten, wird üblicherweise erwartet, dass vor allem die Frau sich um das Kind kümmert. Geht sie kurz nach der Geburt (oder später) wieder in Vollzeit arbeiten, gilt sie schnell als Rabenmutter. Bei Männern sieht das anders aus. Stimmt gar nicht? Dann mal kurz an die Diskussion um Annalena Baerbocks Kinder erinnern – was soll nur mit ihnen passieren, falls Mama Kanzlerin wird? Bei männlichen Politikern mit Kindern kommen solche Diskussionen nicht auf. 

Anderes Mini-Beispiel: Eine weibliche Person, die gern und viel Sex hat – womöglich sogar mit wechselnden Partner*innen – gilt gesellschaftlich nach wie vor als unmoralisch und wird nicht selten abgewertet oder sogar ausgegrenzt. Slut-Shaming! Bei männlichen Personen ist das weniger so.

Das sind bloß zwei beliebige Aspekte. Die Liste ist viel, viel länger. Hier noch ein paar Punkte, die existierende Geschlechter-Ungerechtigkeit zeigen:

  • Es gibt weltweit deutlich weniger Frauen in wirtschaftlichen und politischen Führungspositionen, auch in Deutschland. Pflege-, Sorge- und Haushaltsarbeit wird hingegen meist von Frauen übernommen, ist oft unbezahlt und wenig respektiert. Laut Gleichstellungsbericht der Bundesregierung leisten Frauen jeden Tag 52,4 Prozent mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer. Auch neben dem Job. Also, abwaschen, Kinder versorgen, einkaufen, kochen, mit Opa zum Arzt…
  • Menschen mit Uterus nehmen zur Verhütung die Pille – und Nebenwirkungen in Kauf. Dazu zählen unregelmäßige Blutungen, Kopfschmerzen, Gewichtszunahme, Verlust der Libido, aber auch Depressions-Risiko, Bluthochdruck, Blutgerinnsel oder Schlaganfall. Auch die Spirale und ähnliche Verhütungsmittel gehen zulasten von Körpern mit Gebärmutter. Die Forschung arbeitet an einer „Pille für den Mann“. Aber da waren Nebenwirkungen wie Hodenschrumpfung, Gewichtszunahme und verringerter Sexualtrieb usw. bisher ein Killer-Kriterium.
  • Auch der Zugang zu Bildung und die Verteilung von wirtschaftlichen Ressourcen, Technologie und Finanzen ist ungerecht. Schätzungsweise 15 Millionen Mädchen im Grundschulalter werden nie lesen und schreiben lernen – 50 Prozent mehr als bei Jungen im gleichen Alter. Und laut UN besitzt nur ein Prozent der Frauen Land. Im Niedriglohnsektor ist der Frauenanteil viel höher als der von Männern. Kein Wunder also, dass Frauen grundsätzlich weniger Geld haben. 
  • Außerdem werden weiblich gelesene Personen viel öfter Opfer von Gewalt als männliche. Laut Statistik hat eine von drei Frauen in der EU in ihrem Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt erlebt; die Hälfte aller Europäerinnen wurde schon mal sexuell belästigt.
  • Sogar Städteplanung ignoriert Frauen, ihre Lebenssituationen und Bedürfnisse und ist an Männern ausgerichtet, wie die Geografin Leslie Kern in ihrem Buch „Feminist City“ erläutert. Verkehrsnetzwerke sind beispielsweise für Berufspendler*innen gemacht. Nicht für Personen, die verschiedene Orte wie Kita, Schulen, Geschäfte, Ärzt*innen an einem Tag ansteuern müssen. Dabei spielt das Thema Sicherheit im öffentlichen Raum eine Rolle. Dunkle Parkplätze oder verlassene Bahnhöfe schränken die Bewegungsfreiheit weiblicher Personen ein – und damit ihre Teilhabe am Leben und den Zugang zu wichtigen Dienstleistungen. 
  • Ähnliches gilt für Entwicklung von Medikamenten oder von Sicherheitsmaßnahmen. Sie orientieren sich an durchschnittlichen Männerkörpern als Norm. Das kann für weibliche Körper gefährlich werden, unter anderem bei Autounfällen oder wenn schusssichere Westen nicht richtig passen. Und so weiter, und so fort. 

All das hängt miteinander zusammen. Und es hat mit dem Patriarchat und seinen alten, verkrusteten Rollenbildern zu tun: Frauen sollen fürsorglich, weich, hübsch und unterlegen sein, Männer stark, hart, erfolgreich und überlegen. Diese überholten Vorstellungen und Strukturen ändern sich zwar, aber nur sehr, sehr langsam. 

Das zeigt auch der Index des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen. Der bewertet die Entwicklung der Geschlechtergerechtigkeit in EU-Ländern in Hinblick auf Arbeit, Geld, Bildung, Zeit, Macht und Gesundheit. Fazit: „Der Gesamtwert für die EU im Jahr liegt bei 67,9 Punkten und zeigt, dass in allen Mitgliedsstaaten dringend Fortschritte nötig sind. Der Wert hat sich seit 2017 nur um 0,5 Punkte und seit 2010 um 4,1 Punkte erhöht“, heißt es in dem Bericht. „Bei diesem Tempo wird es über 60 Jahre dauern, bis die Gleichstellung der Geschlechter in der EU erreicht ist.“

Und auch, wenn die Welt (noch) für Männer gemacht ist, profitieren davon übrigens nicht alle Männer immer und gleichermaßen. Im Patriarchat wird ein ganz bestimmtes Männlichkeitsbild propagiert, das auch ihnen eben viele Dinge nicht ermöglicht und sie einschränkt. Das betrifft in erster Linie alles, was als „weiblich“ gesehen wird: Gefühle zeigen, Beziehungsarbeit leisten, Kinder erziehen und so weiter. Stichwort: toxische Männlichkeit.

Glasklar gesagt und für Onkel Heinz und Tante Trude zum Mitschreiben: Nur, weil Frauen inzwischen in vielen Ländern wählen, studieren und arbeiten dürfen und nicht heiraten müssen, sind wir noch lange nicht fertig. Also, in 60 Jahren können wir in einigen Teilen der Welt von Gleichberechtigung sprechen – vielleicht. Bis dahin gilt: Wir brauchen Feminismus. Und zwar für alle.

Sieh dir hier unser Video aus der Schule gegen Sexismus an:

Ergänzende Links zum Thema:

Gleichstellungsbericht der Bundesregierung: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/gleichstellung-von-frauen-und-maennern-841120
Frauen in Führungspositionen: https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-1/frauen-fuehrungspositionen.html
Daten und Infos zu geschlechterbasierter Gewalt: https://eige.europa.eu/gender-based-violence/what-is-gender-based-violence
Artikel zu Sicherheit und zur Gender Data Gap: https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2019/feb/23/truth-world-built-for-men-car-crashes
EU Gleichstellungs-Index: https://eige.europa.eu/gender-equality-index/2020/DE

Bildquelle: elia pellegrini/Unsplash

Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich gelesenen Personen betreffen. Ebenso verhält es sich in den meisten Fällen mit Jungen und Männern.

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