Wenn Schule zum Tatort wird

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist ein Problem. Dass diese Gewalt allerdings nur von Erwachsen ausgeht, ist eine fatale Fehleinschätzung. Was in dieser Hinsicht unter Gleichaltrigen zwischen Hausaufgaben- und Klassenarbeitsstress, Youtube und Whatsapp passiert, zeigt eine aktuelle Studie der Universitäten Marburg und Gießen. Die Ergebnisse sind nicht einfach zu verdauen. 81 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben sexualisierte Gewalt erfahren, beobachtet, davon gehört oder selbst eine Tat begangen. Von Übergriffen betroffen sind vor allem Mädchen, Tatort ist häufig die Schule.

Befragt wurden 2.700 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 9 und 10 an über 50 hessischen Haupt-, Real- und Gesamtschulen sowie Gymnasien. Die meisten Umfrageteilnehmerinnen und -teilnehmer waren zum Befragungszeitpunkt zwischen 14 und 16 Jahren alt. Zwei Schulstunden lang füllten sie anonym einen Fragebogen aus – abgebrochen hat ihn trotz der Länge kaum jemand. Die meisten haben am Ende angekreuzt, dass sie das Thema als wichtig erachten.

Jedes zehnte Mädchen wird zum Geschlechtsverkehr gedrängt

55 Prozent der Mädchen, aber auch 40 Prozent der Jungen sind demnach persönlich von nicht-körperlicher Gewalt betroffen.

Allerdings waren Mehrfachantworten möglich, sodass deutlich wird, dass den Schülerinnen diese Handlungen häufiger widerfahren als den Schülern. So geben 41 Prozent der Mädchen an, sie seien beleidigt worden oder diejenige gewesen, über die sexuelle Kommentare, Witze oder Gesten gemacht wurden. Bei den Jungen sind es 26 Prozent. Über 17 Prozent der Umfrageteilnehmerinnen wurden Gerüchte mit sexuellem Inhalt verbreitet (Jungen: 10 Prozent), außerdem wurden 15 Prozent der Mädchen mit exhibitionistischen Handlungen konfrontiert (Jungen: 4 Prozent). Einzig, wenn es darum geht, auf negative Art als „schwul“ oder „lesbisch“ bezeichnet worden zu sein, sind mit 26 Prozent mehr Jungen betroffen (Mädchen: 13 Prozent).

Noch deutlicher wird der Unterschied bei Erfahrungen mit körperlichen Übergriffen:

So gibt jedes dritte Mädchen an, schon einmal gegen ihren Willen in sexueller Form „angetatscht“, also etwa an Brust oder Po berührt worden zu sein. Bei den Jungen ist es lediglich einer von zwanzig (und auch das sind zu viele). Jedem zehnten Mädchen wurde in den Schritt gefasst, ebenso viele wurden zum Geschlechtsverkehr gedrängt, wobei es in drei Prozent der Fälle auch dazu kam (Jungen: 1,4 und 0,3 Prozent). Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, von Übergriffen betroffen zu sein. Unterschiede bezüglich der Schulform konnten die Macher*innen der Studie nicht feststellen. Was aber sichtbar wird: Der Ort, an dem die Erlebnisse stattfinden, ist häufig die Schule. Im Falle nicht körperlicher Gewalt ist es jeder zweite, bei körperlicher Gewalt jeder vierte Fall.

Sorgen, Ängste, Scham und Tränen

Die Übergriffe bleiben nicht folgenlos, auch nicht, wenn sie nur beobachtet wurden oder die Jugendlichen davon gehört haben. Vor allem Mädchen berichten von Sorgen und Ängsten, von Scham und Tränen und Misstrauen gegenüber anderen. Das Selbstbild leidet, das Sicherheitsempfinden schwindet und die Freude zur Schule zu gehen und zu lernen, sinkt. Erstaunlicherweise nicht nur bei denen, die betroffen sind. Auch die Ausübenden, überwiegend Jungen, weisen geringere Werte auf.

Der Süddeutschen Zeitung sagte Prof. Dr. Sabine Maschke, Erziehungswissenschaftlerin und Autorin der Studie, dass sie besonders überrascht war, wie sehr solche Erfahrungen die Lebenswirklichkeit der Schülerinnen durchdringen und als normal angesehen würden. So hätten Mädchen geschrieben, man müsse halt wissen, wie man solche Verhaltensweisen blocke. Andere übten drastische Kritik: Mädchen würde besonders in der Schule beigebracht, nicht vergewaltigt zu werden, anstatt Jungs beizubringen, nicht zu vergewaltigen.

 Sexualität und Rollenbilder müssen in Schulen mehr thematisiert werden

Was muss also passieren auf Schulhöfen und in Klassenzimmern? Die klare Empfehlung der Studie: Früh genug, am besten schon in der Primarstufe, aufklären über Sexualität und Rollenbilder, über Stereotype in Medien und Pornografie – ein Appell, der sich gleichermaßen an Lehrer*innen und an Eltern richtet. Die Schüler*innen wünschen sich mehr Aufklärung und Angebote für konkrete Hilfe und Beratung.

Maschke und ihre Kolleg*innen plädieren außerdem für eine größere Auseinandersetzung mit klischeehaften sexualisierten Rollenbildern. Die Befragung zeigt einen signifikanten Zusammenhang zwischen gewalttätigem Verhalten und Pornokonsum, der besonders unter Jungen weit verbreitet ist. Hier sehen sie den Ansatz, die Fähigkeit von Jugendlichen zu stärken, diese Bilder besser reflektieren und bewerten zu können. Pornografie totzuschweigen ist insbesondere in Anbetracht der allgegenwärtigen Zugriffsmöglichkeit auf sie durch mobile Endgeräte keine Option.

Bei all dem muss der Fokus mehr auf Gleichaltrige gelegt werden, deren Umgang miteinander gerade während der Pubertät geprägt ist von dem reichhaltigen Angebot an Genderklischees und simplen Rollenbildern, die ihnen die Medien- und Werbewelt bietet. Die Schule ist dabei der Ort, an dem Jugendliche Tag für Tag zusammenkommen, was mit Blick auf sexualisierte Gewalt zum Problem werden kann. Allerdings bieten sich hier eben auch Chancen, die Jugendlichen zu erreichen und mit besserer Aufklärung dafür zu sorgen, dass die Ergebnisse einer solchen Studie in Zukunft weniger verheerend ausfallen.

Titelbild: Barney OŽFair / pixelio.de