Die gespaltene Gesellschaft

„Was geht in Menschen vor, die in Berlin unbedingt auf einem Extrafriedhof für Lesben beerdigt werden wollen, weil sie bis in den Tod nur unter „ihresgleichen“ ruhen mögen?“
Immer wieder lese ich diesen Satz und schwanke zwischen Belustigung, Unverständnis und blankem Entsetzen. Wie kann man angesichts der eigenen identitären Privilegien das Bedürfnis anderer nach gleichberechtigter Teilhabe für so lächerlich, ja für so anmaßend halten?

Der Satz stammt von Birgit Kelle, einer erklärten Gegnerin von queer-feministischen Emanzipationsbemühungen, die gerne und regelmäßig als Kronzeugin derjenigen in der Gesellschaft auftritt, die finden, dass das alles gerade zu weit geht. Gendergerechte Sprache, Ehe für Alle, Quote, geschlechtergerechte Erziehung, Sichtbarkeit für Marginalisierte, Antirassismus – Teile der Gesellschaft finden Forderungen und Entwicklungen zu diesem Themenbereich grundsätzlich überzogen und belastend und stören sich an dem, was Alexander Dobrindt mal „Forderungen einer schrillen Minderheit“ genannt hat. Das Interessante daran ist nicht, dass Kelle sich seit ihrem „Dann mach doch die Bluse zu“ Text über die sexistischen Übergriffigkeiten Rainer Brüderles stets auf die Seite derer stellt, die keinerlei Fürsprache oder Anwaltschaft brauchen, sondern die Art und Weise wie sie das tut. Denn das ist, nicht zuletzt auch mit Blick auf die politischen Entwicklungen in den USA, ein herausragendes Zeichen der Zeit.

Der ausgemachte Feind heißt dabei Identitätspolitik. Eine Politik also, die darauf basiert, dass Gruppen spezielle Rechte und Privilegien für sich einfordern und der von Gegner*innen vorgeworfen wird, dass sie die Gesellschaft spaltet.

Identitätspolitik, so die Anklage, stellt die Abkehr von einer gemeinsamen, gesamtgesellschaftlichen Vision für alle dar und ersetzt sie mit den emanzipatorischen Kämpfen von Betroffenen einzelner marginalisierter Gruppen, die auf ihrem Recht bestehen. Nach diesem Verständnis läuft eine Gesellschaft damit Gefahr, zu einer Ansammlung von widerstreitenden Partikularinteressen zu zerfallen, in der sich immer die Person durchsetzt, die die größte Diskriminierungserfahrung vorweisen kann. Eine Art Oppression Olymics, bei der heterosexuelle weiße Cis-Männer ganz schlecht abschneiden. Aber die Annahme, dass Gesellschaften daran zugrunde gehen, weil Minderheiten seit der Jahrtausendwende immer häufiger „eine Extrawurst“ fordern, ist falsch. Unabhängig davon, dass es gute Gründe gibt, Identitätspolitik zu kritisieren und ein waches Auge darauf zu haben, dass Diskriminierungserfahrung nicht die einzige Form relevanter Expertise für alle Bereiche ist, wird hier nur eine Strategie zur Verhinderung gleichberechtigter Teilhabe aufgefahren. Und das geschieht überdeutlich.

  1. Die Extrafriedhöfe
    Als Katholikin kann Birgit Kelle also überhaupt nicht verstehen, dass Lesben einen Extrafriedhof haben wollen. Weil es ja auch keine speziellen Friedhöfe für Angehörige verschiedener Religionsgemeinschaften gibt, die gerne „bis in den Tod mit ihresgleichen ruhen“. Oder wie war das noch mal? Die rote Linie wird bei Identitätspolitik scheinbar gerne hinter den eigenen Privilegien gezogen: Das, was ich will, ist allgemein, universell und immer gültig. Alle sollten sich dahinter versammeln können. Das, was andere wollen, ist immer zu viel, zu besonders, zu ausgefallen und zu anmaßend.
  2. Das Nullsummenspiel
    Politik ist kein Nullsummenspiel und Emanzipation muss nicht als Verteilungskampf verstanden werden. Die Ehe für alle nimmt der Ehe für manche nichts weg. Wenn marginalisierte Gruppen gleiche Rechte und eine bessere Behandlung einfordern, dann hebt das den Standard der gesamten Gesellschaft.
  3. Fakten versus Gefühle
    Immer wieder wird linker Identitätspolitik unterstellt, sie wäre nicht faktenbasiert. Diskriminierung wäre nur empfunden, Gender nur ausgedacht und Forderungen stets unrational. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Gegen den Stand der Wissenschaft, dass Geschlecht nicht binär ist, Mädchen keine angeborene Pinkvorliebe haben und trans Frauen ebenso Frauen sind wie trans Männer Männer, wird nicht argumentiert sondern ignoriert.
  4. Macht und Ohnmacht
    Spielen wir Oppression Olymics mal durch: Ist es so? Ist es wirklich so, dass jemand, der schwarz, trans, homosexuell, behindert und jüdischen Glaubens ist, alle Trümpfe in der Hand hält? Würde diese Person immer bevorzugt werden, bis sie an der Spitze eines Verbands, Unternehmens oder gar des Staates lebt? In welchem Paralleluniversum denn bitte?
  5. Gespaltenheit
    Identitätspolitik von Marginalisierten spaltet nicht, sondern ist Ausdruck einer gespaltenden Gesellschaft. Hier werden Betroffene als Überbringer*in der Nachricht für die Nachricht angegangen. Der Tod von George Floyd spaltet nicht die US-amerikanische Gesellschaft. Floyd wurde vielmehr Opfer einer durch Rassismus gespalteten Gesellschaft

Die Kritik an der Identitätspolitik Marginalisierter zielt nahezu ausschließlich darauf ab, den Status Quo zu erhalten und Minderheiten dazu aufzufordern, sich hinter den Interessen der Mehrheit zu versammeln. Von deren Bedürfnissen, Erfahrungen und Ansichten mitgemeint zu sein, obwohl sie kaum bis nie mitgemeint waren. Während die Mehrheitsgesellschaft sich auf ein „Aber es war doch immer so nett mit uns“ versteift, zeigen Marginalisierte auf, was schon viel zu lange schiefläuft, und werden dafür in ihren Ansprüchen delegitimiert. Dabei ist Politik immer Identitätspolitik.

Und die Kritik an Extrafriedhöfen nur der billige Versuch, die Existenz des eigenen Extrafriedhofs als normal, als rational, als common sense hinzustellen, während die Extrafriedhöfe anderer angeblich anstrengend, überzogen und spalterisch sind. Die Frage ist also nicht, was in Menschen vorgeht, die einen Extrafriedhof für Lesben fordern, weil sie permanent marginalisiert werden und auch mal gerne was für sich hätten. Die Frage ist, wieso Menschen wie Birgit Kelle nicht wahrhaben wollen, dass die große Erzählung von der offenen und toleranten Mehrheitsgesellschaft eben immer auch eine Lüge ist, die zu Lasten anderer geht. Die Antwort auf diese Frage ist womöglich so einfach wie erschreckend:

Die eigenen Privilegien fühlen sich offenbar noch mal sehr viel besser im Angesicht von Minderprivilegierten an.

Bild: Unsplash

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