Leuchtende Männer - ein Artikel von Nils Pickert über Männlichkeit.

Leuchtende Männer

Eine Kolumne von Nils Pickert

Ich hatte in meinem Leben oft ziemliches Glück. Ein sehr großes Glück war es, dass meine Mutter durch ihre zahlreichen Freundschaften und beruflichen Verbindungen mit queeren Menschen meinen Kosmos um Personen bereicherte, die ich in einer heteronormativen männlichen „Normalbiografie“ eher als randständig oder gar mit Feindseligkeit betrachtet hätte. Als Junge interessierten mich vor allem Versionen von Männlichkeit. Ich wollte wissen, wie Mann ist. Was Mann sein kann. Was Mann so (aus)macht. Mein Glück bestand und besteht darin, dass da jede Menge Männer und Männlichkeitsversionen waren, die ich im „Normalfall“ hätte hassen lernen müssen: Schwule Männer. Bisexuelle Männer. Trans* Männer. Geschminkte Männer. Männer in fabulösen, umwerfenden Kleidern. Männer in Ballettschuhen, die sich die Seele aus dem Leib tanzten. Für mich war das im besten Sinn des Wortes „gewöhnlich“. Unter diesen Männern gab es welche, die Arschlöcher waren. Nicht weil sie schwul, bi, trans* oder gerne in Drag gekleidet waren, sondern weil sie sich herablassend und gemein verhielten. Die meisten aber waren großartig. Lustig. Ehrlich. Aufmerksam. Kreativ. Belesen. Authentisch.

Als ich in die Pubertät kam, wurden mir diese Männlichkeitsversionen jedoch madig gemacht. Ich fühlte mich dazu aufgefordert, sie mit Häme und Verachtung zu strafen, um alle Welt von meiner „Normalfallmännlichkeit“ zu überzeugen. Ich würdigte die Identität von Männern herab, die mir etwas bedeuteten. Ich bekundete Ekel vor der sexuellen Präferenz von Männern, die mir nichts als liebevolle Großzügigkeit entgegengebracht hatten. Ich markierte Männer als abartig, von denen ich viele gute Dinge lernen durfte. All das, um belegen zu können, wie ich sein zu müssen glaubte, und zugleich zu verstecken, was ich auch immer war: Hilfsbedürftig. Schwach. Sehnsüchtig. Verletzt. Überfordert. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich aus diesem Sumpf herauskämpfen konnte und ich verletzte dabei zu viele Menschen. Nicht zuletzt auch Frauen und Mädchen, weil die Abwertung dieser als andersartig wahrgenommenen Versionen von Männlichkeit im Kern immer um die Abwertung von Weiblichkeit kreist. Um die Furcht, in der Unsicherheit um die eigene männliche Identität mit dem identifiziert zu werden, was Simone de Beauvoir das andere Geschlecht nannte. Also irgendwie kein ganzer Mann zu sein. Nicht dazuzugehören. In seiner Männlichkeitsperformance zu versagen.

Langsam, sehr langsam fing ich an zu begreifen, dass ich damit nicht nur andere Menschen verletzte und ihrer Identität beraubte, sondern auch mich selbst. Ich ließ mir diese Männer, diese funkelnden Erzählungen von Männlichkeit einfach wegnehmen, weil ich Angst hatte, dass man mir andernfalls meine wegnimmt. Ich lebte eine einfältige Version von Männlichkeit, obwohl ich in meiner Kindheit von vielfältigen Versionen informiert und beeindruckt wurde. Und irgendwann reichte es mir. Mittlerweile lasse ich mir diese Männer und ihre Versionen von Männlichkeit nicht mehr schlechtreden oder gar entreißen. Ohne sie wäre ich gar nicht in der Lage, mir ein auch nur annähernd wirklichkeitsgetreues Bild davon zu machen, was Männlichkeit bedeutet und bedeuten kann. Ich würde mich als Mann selbst nicht verstehen, wenn ich für die Männlichkeit von trans* Männern nur Ignoranz, Hohn oder gar Verachtung übrig hätte. Ich wüsste zu wenig über mein eigenes Begehren, wenn ich das Begehren schwuler Männer nicht als gleichwertig zur Kenntnis nähme.

Darüber, was Männlichkeit ausmacht, denke ich seit vielen Jahren nach – und seit einigen Monaten sehr intensiv. Ich sitze an einem Buch mit dem Titel er/ihm, das sich mit der Frage beschäftigt, wie ich zum Mann geworden bin. Was mir gegeben, versprochen und angetan wurde, damit ich die Art Mann werde, die von mir erwartet wurde. Und welche Art Mann ich geworden bin.

Ich wollte und will darüber schreiben, wie Männer gemacht werden. Welche Versionen ihrer selbst sie zurücklassen und von sich abschneiden mussten, um die Art Mann zu werden, die sie gefälligst zu sein haben. Und wie schön es wäre, all diesen zurückgelassenen Versionen zu begegnen und mich mit ihnen auszutauschen. Mit den zarten Männern. Mit den verlorenen Jungs. Denn ich habe lange, sehr lange darüber nachgedacht, was Männlichkeit sein könnte. Und ich würde ihnen gerne davon erzählen:

Männlichkeit könnte doch das sein, was wir in kleinen Jungen entzünden, damit es in erwachsenen Männern leuchtet.

Schauen wir mal, ob sie mir zuhören wollen.


Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen. Häufig greifen wir auch Statistiken auf, die meistens leider nur die binären Geschlechter „Frau“ und „Mann“ berücksichtigen.

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Bildquelle: Jeffrey Keenan, unsplash