Wenn Männer Frauen für krank erklären

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Wenn es eine Formulierung gibt, die den Inhalt und die Recherche zu diesem Text zusammenfasst, dann ist es dieser Satz. Uns war zwar klar, dass wir zur Kehrseite unseres Gendermedizin-Artikels von 2017 einiges an Material finden würden, aber das es so viel sein würde, damit hätten wir nicht gerechnet.

Aber der Reihe nach: Seit einigen Jahren beschäftigt sich die Wissenschaft endlich mit dem Problem, dass Medizin, medizinische Produkte und Medikamente fast ausschließlich für Männer gedacht, erforscht und entwickelt werden. Dass ein Herzinfarkt bei Frauen oft völlig anders aussieht als bei Männern, sie in zu wenig klinische Studien aufgenommen werden und Medikamente bei ihnen anders wirken können, spricht sich allmählich rum und das ist gut so. Der sogenannte Gender Data Gap (also die Lücke in der Datenmenge, die über Frauen und Männer zugunsten letztgenannter herhoben wird) ist real und muss dringend geschlossen werden.


Worüber aber, wenn überhaupt, viel zu wenig gesprochen wird, ist die Tatsache, dass es eine erschreckende Anzahl von Krankheiten, Syndromen, und psychischen Verfasstheiten gibt, die sich Männer ausgedacht haben, um das ihnen nicht genehme Verhalten von Frauen zu pathologisieren, sie gefügig zu machen, zu diskreditieren oder zum Schweigen zu bringen. In unserer Alltagssprache wirkt das nach, was die Grundlagentexte zu diesem Thema von Phillys Chesler (Women and Madness) und Elaine Showalter (The Female Malady) in den 70ern und 80er Jahren beleuchtet haben: Die hysterische, verrückte, wahnsinnige Frau, deren Verhalten medizinisch problematisiert wird, obwohl es oft einfach nur den Rahmen gesellschaftlicher, um nicht zu sagen männlicher Erwartungen sprengt. Es hat einen Grund, warum Menschen, die den Klimawandel leugnen oder verharmlosen, von „Klimahysterie“ (Unwort des Jahres 2019) sprechen. Die Fridays for Future Bewegung wird vor allem von Frauen angeführt und ist ihrem Protest am sichtbarsten. Und über diesen Grund müssen wir reden. Nicht nur am Beispiel der Hysterie, sondern auch an noch so manch anderem.

Stockholm-Syndrom
Ausschlaggebend für diesen Text waren die Rechercheergebnisse der australischen Journalistin Jess Hill zu ihrem Buch See What You Made Me Do über häusliche Gewalt. Hill zeichnet die Geschichte des Stockholm-Syndroms nach, die so absurd klingt, als hätte man sie sich ausgedacht.

Dabei ist es das Syndrom an sich, dass sich der Psychiater Nils Bejerot zunächst unter dem Namen Norrmalmstorg Syndrom ausgedacht hat. Bejerot hatte dieses Syndrom einer weiblichen Geisel als eine Art irrationale Fraternisierung mit ihren Entführern attestiert. Diese Verbindung nennt er explizit „emotional oder sexuell“. Tatsächlich war Bejerot als Unterhändler in dem völlig verkorksten Polizeieinsatz tätig, bei dem sich die Geisel Kristin Enmark unter anderem am Telefon vom damaligen Ministerpräsidenten Schwedens anhören musste, dass sie sich damit zufrieden geben müsse, vor Ort zu sterben. Nach dem Einsatz wurde Bejerot von Enmark scharf kritisiert. Was ihn dazu veranlasste, dieses Syndrom aus dem Hut zu zaubern, ohne auch nur einmal mit Enmark persönlich gesprochen, geschweige denn sie untersucht zu haben. Seitdem wurde das Stockholm-Syndrom häufig diagnostiziert, jedoch nicht von Fachleuten sondern medial – meist sensationsgierig und exploitativ. Beispielhaft dafür ist beispielsweise der Umgang mit Natascha Kampusch.

Hysterie
Der Klassiker. Die wandernde Gebärmutter ist Schuld an dem unkontrollierbaren Verhalten von Frauen. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert führte der „Hysterieexperte“ Jean-Martin Charcot zahlreichen Kollegen (unter ihnen auch Sigmund Freud) vor, wie es aussieht, wenn Frauen sich „wie von Sinnen“ gebärden.

Sein erklärter „Lieblingsfall“ ist dabei die 15 Jährige Augustin, die er immer wieder durch Hypnose in Trance versetzt, um den angereisten Herren seine 5 Stadien der Hysterie präsentieren zu können. Um sie begaffen zu lassen, während er sie und andere mit Elektroschocks und einer „Ovarienpresse“ malträtierte.

Über die Jahre werden etwa 4000 Frauen in der Pariser Nervenheilanstalt Salpêtrière interniert. „Weibliche Hölle“ nennen die Einheimischen diesen Ort und „zweite Bastille“. Die Medizin distanziert sich mittlerweile von diesem Konzept, verschwunden ist es allerdings nicht.

Besessenheit
Der eigentliche Klassiker. Daten zu angeblicher Besessenheit und damit verbundenen Exorzismen sind nicht leicht zu erheben, weil die katholische Kirche sie geheim hält. Aber zum einen ist Besessenheit eng mit dem Thema Hexenverfolgung verknüpft, das wir hier schon einmal näher beleuchtet haben: Knapp 80 % der etwa drei Millionen verurteilten Personen, darunter 40.000 bis 60.000 Todesopfer, waren Frauen. Und zum anderen dreht es sich bei den wenigen schließlich doch bekannt geworden Fallbeispielen fast ausschließlich um Frauen. Ob nun eine junge Polin vom Teufel besessen zu sein scheint, in Belize eine 22 Jährige bei einem Exorzismus einen Herzinfarkt erleidet, ein italienisches Mädchen unter dem Vorwand eines Exorzismus 2018 von einem Priester missbraucht wird oder die deutsche Anneliese Michel, die nicht weniger als 67 große Exorzismen ertragen musste, bevor sie 1976 an Unterernährung starb – der an Epilepsie leidenden jungen Frau hätte definitiv anders geholfen werden müssen. Und auch in anderen Religionen lassen sich Rituale identifizieren, die nach einem ähnlichen Muster ablaufen und ähnliche Folgen haben.

Piblokto
Steht hier stellvertretend für eine ganze Reihe von Krankheiten, Symtomen oder Besessenheitsformen, die ganz zufällig immer dann „diagnostiziert“ werden, wenn weiße Männer sich für die einheimischen Frauen der Gebiete interessieren, die sie gerade erobern oder „besuchen“. Wird auch als „arktische Hysterie“ bezeichnet und fast ausschließlich auf Inuit-Frauen bezogen. Piblokto tut nur so als wäre es ein Wort aus einer Inuit-Sprache und beheuchelt Eigeninteresse mit angeblicher Neugier auf andere Menschen. Sehr vieles spricht dafür, dass Piblokto weniger ein befremdliches kulturspezifisches Phänomen ist als vielmehr eine Reaktion auf kolonialistische Besatzung und (sexualisierte) Gewalt.

False Memory Syndrom
Die „Das stimmt doch alles gar nicht, hör auf das zu sagen“ Variante. Anfang der 90er beschuldigt die Psychologieprofessorin Jennifer Freyd ihren Vater, den Mathematiker Peter Freyd des sexuellen Missbrauchs über ihre gesamte Kindheit und Jugend hinweg bis zum Alter von 16 Jahren. Als Reaktion darauf schrieb die Mutter des Opfers, die Erziehungswissenschaftlerin Pamela Freyd, einen anonymen Artikel über die elterliche Version der Familiengeschichte, in der sie die Tochter beruflich und privat diskreditiert, ohne ihren Namen zu nennen. Anschließend gründeten die Eltern die False Memory Syndrome Foundation und begannen damit, Kolleg*innen ihrer Tochter den Artikel zu schicken. Ziel der Foundation war es, Lobbyarbeit für die Behauptung zu betreiben, in Therapien würden Betroffenen durch Therapeut*innen falsche Erinnerungen indiziert werden, die deshalb anschließend ihre Angehörigen des sexuellen Missbrauchs beschuldigen würden. Dem Beirat der bis 2019 existierenden Stiftung gehörte unter anderem Gründungsmitglied Ralf Underwager an. Der Psychologe und Pastor trat häufig als Experte für die Verteidigung in Fällen von Anschuldigungen bezüglich des sexuellen Missbrauchs von Kindern auf und tat sich dabei mit Aussagen wie der hervor, dass „60 Prozent der als Kinder missbrauchten Frauen rückblickend sagen, die Erfahrung sei gut für sie gewesen„. Ein anderes Beiratsmitglied schloss sich der Stiftung an, weil „ein Freund und Kollege von seiner erwachsenen Tochter des Kindesmissbrauchs beschuldigt wurde und ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen konnte.“ Letztlich brach die Reputation der Stiftung über die Jahre immer mehr zusammen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Journalist*innen ihren eigenen kritiklosen Umgang mit der Foundation hinterfragten und Fälle recherchierten, in denen sich Eltern schützend vor die Täterschaft ihres Sohnes gegenüber der Tochter stellten und alles leugneten, obwohl der Täter die Vorwürfe umfassend einräumte. Oder in denen DNA-Spuren und Zeug*innenaussagen die Angaben der Opfer bestätigten.

Elterliches Entfremdungssyndrom
Wurde 1985 erstmalig von dem Kinderpsychiater Richard Gardner beschrieben und hat seitdem immer wieder dazu gedient, Müttern in Gerichtsprozessen zu unterstellen, sie würden dem Kind bewusst oder unbewusst den Vater so sehr entfremden, bis es mit unbegründeter Ablehnung und Abwertung reagiert. Anfänglich war Gardner davon überzeugt, dass für 90% der Entfremdungsfälle die Mütter verantwortlich sind. In diesem Setting wurde es immer wieder vor Gericht dazu benutzt, Schuld zuzuweisen, ablehnendes Verhalten des Kindes zu relativieren bis hin zur Nutzung als Verteidigungsstrategie gegen Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs. Das elterliche Entfremdungssyndrom ist aufgrund seiner mangelhaften theoretischen Fundierung und seiner anfänglich sexistischen Zuschneidung wissenschaftlich hochumstritten, bzw. wird gänzlich negiert.

Nymphomanie
Über Satyriasis oder Donjuanismus, also eines übersteigerten sexuellen Verlangens bei Männern, spricht niemand. „Die ist ne Nympho“ wird hingegen weitläufig verstanden als Kommentar zu einer Frau, die damit als leicht zu haben, sexuell besonders aktiv oder promiskuitiv markiert wird. Es ist eine abwertende Bezeichnung, die oft gleichzeitig mit der freudigen Erwartung eines möglichen Zugriffsrechts auf die so bezeichnete Frau kombiniert wird. Nymphomanie ist der sprachliche Käfig, in die eine sexistische Sexualmoral die Sexualität von Frauen steckt.
Unappetitliche Randbemerkung: In der Veterinärmedizin ist der Begriff nach wie vor als Bezeichnung von Eierstockerkrankungen bei Säugetieren gebräuchlich.

Frigidität
Der „Es liegt nicht an mir, es liegt an ihr“ Selbstbetrug. Würde man den Begriff ernst nehmen, müssten „Geschlechtskälte“, Unerregbarkeit und geringes sexuelles Verlangen ja auch bei Männern vorliegen. Aber es sind zumeist Frauen, die als frigide bezeichnet werden und wurden. Und zwar nicht aus Sorge um ihre Gesundheit, sondern als Vorwurf, in der sexuellen Performance zu versagen. Als Abwehrreaktion. Wenn sie nicht von dem erregbar ist, was ihm so sexuell vorschwebt, dann muss es an ihr liegen. Frigititätsunterstellungen zielen gerne auf emanzipierte Frauen und werden häufig in antifeministischen Einwürfen bemüht – durchaus auch von Frauen.

Wir hätten hier noch einiges auffahren können. Von den 9 Pforten der Frauen-Homöopathie über die Frage, warum das Paris-Syndrom fast ausschließlich junge Japanerinnen betrifft, bis hin zu fatalen Fehlentscheidungen mit Blick auf das Münchhausen-Stellvertretersyndrom. Krankes Blut, falsche Brustwarzen, unreine Perioden und natürlich Bleichsucht, auch Jungfrauenkrankheit genannt, zu deren Überwindung Vätern empfohlen wurde, die blassen Töchter alsbald zu verheiraten, um das stockende Menstruationsblut wieder in Fluss zu bringen. Die Liste geht immer weiter. Aber dann würde der Text immer länger und abschließend nicht eingeordnet. Und eine Einordnung ist wichtig.

Denn wir behaupten nicht, dass es keine psychischen Störungen gibt oder dass gar keine Frauen existieren, die versuchen, ein Kind in einen Trennungssituation gegen den Vater einzunehmen. Wir sagen nicht, dass ein Gedächtnis unmanipulierbar ist und Erinnerungen niemals trügen. Oder dass das Verhalten von Männern nie pathologisiert wird. Und selbstverständlich gibt es auch im Bereich des sexuellen Missbrauchs Falschbeschuldigungen. Worum es uns hier geht, ist die Feststellung, dass es offenbar eine lange, bis in die Gegenwart reichende Tradition gibt, das Verhalten von Frauen zu problematisieren, tatsächliche Krankheiten mit Phantasieprodukten zu überdecken und über den medizinischen Zugang weiblicher Autonomie habhaft zu werden. Nicht zuletzt der sexuellen Autonomie. Es bleibt also noch viel zu tun. Daten erheben, Forschung betreiben, Mythen entzaubern, Lehrmeinung überarbeiten. Und das mit einem möglichst geschlechtersensiblen Blick. Höchste Zeit dafür.

Bild: Unsplash

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