Wie viel Sexismus steckt in Ableismus?

TW: psychische, physische und sexualisierte Gewalt, Diskriminierung

Eine Diskriminierung kommt selten allein! Menschen sortieren andere Menschen gern in Schubladen. Das mag uns bei der Orientierung in der Welt helfen, leider übersehen wir dadurch aber auch oft Probleme, die die Zugehörigkeit zu mehreren Schubladen mit sich bringt.

Das Schlüsselwort lautet Mehrfachdiskriminierung. Kurze Erklärung: Einige Menschen erfahren mehrere Arten der Diskriminierung, die sich überschneiden. Diese Kombination von z.B. Sexismus und Ableismus führt dann zu sehr individuellen Diskriminierungserfahrungen. 

So machen Frauen und weiblich gelesene Personen mit Behinderung andere Diskriminierungserfahrungen als Männer mit Behinderung oder nicht-behinderte Frauen und weiblich gelesene Personen: Sexismus trifft auf Ableismus.

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Was ist Ableismus?

Ableismus benennt die Diskriminierung von behinderten Menschen. Das Wort kommt aus dem Englischen und ist abgeleitet von „to be able to“ – also „fähig” oder „in der Lage zu etwas sein”. Dabei werden Menschen mit Behinderungen auf ihre Beeinträchtigung reduziert, ungleich behandelt und so von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Nicht-Behindert-Sein gilt als gesellschaftliche Norm – und alles, was ihr nicht entspricht, wird abgewertet, stigmatisiert und ausgegrenzt. Dieser Diskriminierung begegnen viele behinderte Personen im Alltag und sie hat direkte Auswirkungen auf ihr Leben. 

Sprüche oder Fragen wie „Kannst du eigentlich Sex haben?“ sind nur ein Beispiel für Grenzüberschreitungen durch Mitmenschen. Und auch strukturelle Diskriminierung zieht sich durch beinahe alle Lebensbereiche – etwa, wenn Rollstuhlfahrer*innen eine Bahnfahrt 24 Stunden vorher anmelden müssen, nur zu bestimmten Tageszeiten reisen dürfen und somit nicht kurzfristig irgendwo hinfahren können. Oder wenn sie sich kein Kissen aus dem Schrank im Hotel holen können, weil der zu hoch angebracht ist. Die Liste ist endlos.

Es ist dabei wichtig zu erkennen: Das Problem ist nicht die Behinderung, Beeinträchtigung oder chronische Erkrankung. Das Problem ist unsere Gesellschaft bzw. sind die gesellschaftlichen Strukturen, die Menschen behindert. Ableismus ist darin genauso tief verwurzelt und weit verbreitet wie Sexismus, also die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Und die Kombination aus Ableismus und Sexismus macht besonders behinderten Frauen und weiblich gelesenen Personen das Leben schwer. 

Häufiger Gewalt ausgesetzt

Das Bundesfamilienministerium hat 2012 zum ersten Mal gezielt Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen zu ihrer Lebenssituation, Belastung und ihren Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen befragt. 

Dabei kam unter anderem heraus, dass die Befragten im Laufe ihres Lebens „allen Formen von Gewalt deutlich häufiger ausgesetzt waren als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt“. Fast 70 bis 90 Prozent berichten von psychischer und körperlicher Gewalt. Vor allem gehörlose, blinde und Frauen mit psychischen Erkrankungen sind laut der Studie betroffen.

Die Bandbreite der Erfahrungen reicht von Beleidigungen, Demütigungen, Benachteiligung, Ausgrenzung, Unterdrückung bis zu Drohung, Erpressung, Psychoterror und körperlicher sowie sexualisierter Gewalt. 

Die Täter*innen kommen nicht selten aus dem Umfeld, zum Beispiel der*die Partner*in. Aber auch Fremde werden übergriffig. Sie nutzen laut Studie die Be_hinderung gezielt aus. 

Anlass für ihr Verhalten ist dabei meist die Geringschätzung der betroffenen Person  – nicht nur als Frau, sondern als behinderte Frau. Zum Beispiel, wenn Männer sie sexistisch und ableistisch ansprechen und so tun, als sollten behinderte Frauen auch noch dankbar sein, dass sie jemand belästigt. 

Behörden wie Polizei und Gerichte nehmen die Beschwerden behinderter Frauen, die Gewalt erlebt haben, zu oft nicht ernst.

Und der öffentliche Raum ist für Frauen und weiblich gelesene Personen mit Behinderungen nicht nur aufgrund ihres Geschlechts gefährlicher und schwieriger zu navigieren als für Männer – ihre Beeinträchtigung macht es zusätzlich schwer, sich frei und sicher zu bewegen. Zusätzlich zum Alltagssexismus wie Catcalling, Belästigung oder die Angst auf dem Heimweg, ist die Öffentlichkeit bisher auch nicht barrierearm genug. Und das ist kein unveränderliches Naturgesetz, sondern ein fehlender politischer Wille. 

Individuelle Erfahrungen

Doch nicht jede Behinderung, Beeinträchtigung oder chronische Erkrankung ist gleich. Einige sind sichtbarer als andere, einige erfordern mehr Unterstützung, andere weniger. Wie jede Person das erlebt und damit umgeht, ist sehr individuell. 

Es gibt zudem viele verschiedene Faktoren, die die Diskriminierungserfahrungen von behinderten Frauen und weiblich gelesenen Personen prägen. Zum Beispiel, ob und was für eine Partner*innenschaft sie führen und in welchem Umfeld sie leben. Ob sie Kinder haben oder nicht. Aber auch, welchen Bildungshintergrund und was für finanzielle Ressourcen sie haben.

„Die Heraushebung ‚der Frauen‘ suggeriert ein einheitliches Problem, obwohl Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen konfrontiert sind“, schreibt die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in einer Analyse. „Die Situation der Diskriminierung aufgrund von Behinderung ist also immer mehrdimensional, doch reduziert geltendes Recht sie auf einen Sonderfall Frauen.“

Trotzdem ist es wichtig, sich die Überlappung von Sexismus und Ableismus und die Auswirkungen grundsätzlich anzuschauen und ernst zu nehmen. Frauen und weiblich gelesene Personen mit Behinderungen gelten als verletzlicher, weniger belastbar als behinderte Männer. Und zwar egal, ob im Leistungssport, bei der Arbeit oder im Privatleben. Das schränkt ein, bevormundet, entmutigt. Und muss aufhören.

Wir alle müssen uns über Mehrfachdiskriminierung bewusst(er) werden und uns etwa für die Mischungen von Sexismus, Rassismus und Ableismus sensibilisieren – um ein kollektives Bewusstsein zu schaffen und dadurch Veränderungen anzustoßen. 

Dabei sollten wir im Hinterkopf behalten, dass sich erlebte Diskriminierung individuell unterscheidet – am Besten lernen wir, indem wir Betroffenen zuhören.

Von diesen Aktivist*innen liest und lernt das Pinkstinks Team gerne:

Sprache und Ableismus

Betroffene Personen bevorzugen unterschiedliche (Selbst-)Bezeichnungen. Einige nutzen etwa „Menschen mit Behinderung” oder auch „Be_hinderung”, andere wiederum „behinderte Menschen” – manchmal auch in der Schreibweise „be_hindert”. Diese bringt zum Ausdruck, dass Betroffene eben erst durch die Gesellschaft be_hindert werden. Wenn wir uns unsicher fühlen, was wir sagen sollen oder dürfen, ist es im Zweifel am besten direkt zu fragen, mit welcher Bezeichnung die jeweilige Person sich am wohlsten fühlt.

Erste-Hilfe-Box

Statt „an den Rollstuhl gefesselt” lieber „Person X sitzt oder benutzt den Rollstuhl oder ist im Rollstuhl unterwegs.”

Statt „Person X leidet an…” lieber „Person X hat die Behinderung ABC oder lebt mit Krankheit YZ”
Statt „Handicap oder gehandicapt” lieber „Behinderung, behindert”

Statt „gesund oder normal vs. krank” lieber „nicht-behindert vs. behindert”

Statt „das Leben oder die Behinderung ‘meistern’“ lieber „mit der Behinderung leben”

Statt „der*die Blinde*r” lieber „blinde Person” 

Weitere Beispiele findest du im Leitfaden von Leitmedien.de.

Links und weiterführende Infos:

Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen. Wenn wir die Adjektive „weiblich” oder „männlich” benutzen, beziehen wir uns ebenfalls auf die stereotypische gesellschaftliche Verwendung der Begriffe. Studien und Umfragen, wie die oben zitierte, nutzen leider häufig noch die binären Geschlechterkategorien. 

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Bildquelle: Pinkstinks Germany e. V.